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Walter Stösser

Walter Stösser (Titelbild vom Buch: Paul Hübel - Der Bergsteiger Walter Stösser)(* 1. Dezember 1900 in Pforzheim; † 1. August 1935 am Morgenhorn)
Deutscher Bergsteiger aus Pforzheim mit zahlreichen Erstbegehungen

Stößer war Gründer und Obmann der Klettergilde Battert und arbeitete ab 1919 als Lehrer. Neben der Eröffnung einiger schwierigen Routen am Battert (Kletterfelsen bei Baden-Baden) gelangen ihm zwischen 1928 und 1935 zahlreiche bedeutende Erstbegehungen in den Alpen, vorwiegend in Italien und der Schweiz. Im Sommer 1935 wagte sich Walter Stößer gemeinsam mit Theo Seybold an die Erstbegehung der Morgenhorn-Nordwand. Dabei stürzte Seybold rund 200 Meter unter dem Gipfel ab und riss Walter Stößer mit in den Tod. Vom Hüttenwart der Gspaltenhornhütte wurde der Absturz beobachtet. Die Leichen der beiden galten mit Stand 1965 noch als vermisst.

1940 veröffentlichte Paul Hübel das Buch "Der Bergsteiger Walter Stösser". In Pforzheim und München ist jeweils eine Straße nach ihm benannt.

Nanga Parbat Expedition 1932

Gelegentlich wird der Name "Walter Stösser" auch mit dem Nanga Parbat in Verbindung gebracht. Über eine Teilnahme an einer der vielen Anläufe zur Besteigung des Nanga Parbat liegen allerdings keine Informationen vor. Lediglich die nachstehende Passage aus dem Buch "Nanga Parbat: Wahrheit und Wahn des Alpinismus" von Ralf-Peter Märtin lässt auszugsweise mögliche Rückschlüsse zu:

"...Für 1932 erhielt Willo Welzenbach grünes Licht zur Planung einer Expedition zum Nanga Parbat mit gleichzeitig finanzieller Unterstützung durch den DÖAV (Deutscher und Österreichischer Alpenverein: DuÖAV, auch DÖAV bzw. DuOeAV)...die neue Mannschaft war eine kleine, aber schlagkräftige Truppe. Sie bestand aus den Sachsen Felic Simon und Fritz Wiessner, einem der besten damaligen Kletterer, der 1929 nach Amerika ausgewandert war. Dieser schlug einen guten Freund vor, Rand Herron, einen vielversprechenden amerikanischen Bergsteiger. Vierter im Bunde war Walter Stösser, ein Lehrer aus Pforzheim, der sich als "alpiner Landsknecht" verstand und dermaßen waghalsige Touren absolviert hatte, dass ihn die Schweizer Bergführer damals für verrückt erklärten. Willy Merkl kannte Welzenbach seit zehn Jahren von vielen Bergtouren. Zur Gruppe gesellte sich auch noch Kunigk. Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise stoppten jedoch die Vorbereitungen für die Expedition, da Welzenbach von seinem Arbeitgeber der Stadt München keinen längeren zusammenhängenden Urlaub erhielt. Am 30.07.16 informiert er den DÖAV, dass sich eine neue Gruppe gefunden hätte. Da der DÖAV jetzt aber die finanzielle Förderung ablehnte, sprang Herron ein, der von Haus aus mit Geldmitteln reichlich gesegnet war. Fortan firmierte das Unternehmen als "Deutsch-Amerikanische Himalaya-Expedition 1932". Willy Merkl wurde offizieller Expeditionsleiter und beschloss noch während den Vorbereitungen, den Berg von Norden, von der Rakhiot-Seite her anzugehen. Stösser verließ - aus hier nicht weiter erwähnten Gründen - die Mannschaft. Als Ersatz rückte Fritz Bechtold nach...."

(Quelle: auszugsweise Nanga Parbat: Wahrheit und Wahn des Alpinismus von Ralf-Peter Märtin († 26. April 2016))

Was geschah am 01. August 1935 am Morgenhorn (Berner Oberland)?

Nachstehender Augenzeugenbericht von Jakob Rumpf, Hüttenwirt der Gspaltenhorn-Hütte, ist dem Buch "Der Bergsteiger Walter Stösser" von Paul Hübel entnommen. Er schildert die dramatischen Ereignisse der letzten Tour der Pforzheimer Berggefährten Walter Stößer und Theo Seybold am 01. August 1935:

"...Ganz klar war der Morgen des 1. August. Um 4 Uhr sind die beiden fortgegangen über den Gamchigletscher zum Fuße der Wand. Um 5 Uhr sind sie in die Felsen eingestiegen. Um 10.30 Uhr sah ich sie unterhalb des großen Eiscouloirs. Ich konnte die beiden mit dem guten Zeißglas, welches Stößer zurückließ, oberhalb der Felsen im Eisbruch entdecken und gut unterscheiden, da Walter Stößer einen hellen Anzug und Theo Seybold einen dunklen trug. Der Fels versperrte dann die Sicht und erst etwa um 13 Uhr konnte ich sie oberhalb der Felsen im Eisbruch wieder sehen, in etwa 3400m Höhe (etwa 200 Meter unter dem Gipfel).

Es war gerade niemand auf der Hütte und so konnte ich von jetzt ab ununterbrochen ihren Kampf in den Eisabbrüchen verfolgen. Sie kamen sehr langsam voran. Die nächsten zwei Stunden brachten sie nur etwa 20 Meter höher. Da löste sich plötzlich unter ihnen ein Abbruch und krachend stürzten die Eismassen in die Tiefe. Stößer, der vorausgegangen war, wollte offenbar eine bessere Deckung ausfindig machen und stieg als erster ab, nahm etwa 6 Meter unterhalb von Seybold Stand und schlug zur Sicherung einen Eishaken. Dann kam Seybold nach. Aber nur drei bis vier Schritte. Jetzt löste sich etwa 20 Meter unterhalb ein zweites Firnstück. Nach diesem Losbruch standen die beiden Bergsteiger regungslos in der Eiswand. Stößer gebückt in Sicherstellung, Seybold aufrecht mit der einen Schulter an die Wand gelehnt. Etwa 10 Minuten vergingen, es war 3 Uhr Nachmittag. Dann glitt Seybold mit den Füßen aus. Er hatte keinen Schritt getan; ohne sich gegen den Sturz zu wehren, rutschte er wie ein gefällter Baumstamm hinunter und riß Stößer in hohem Bogen mit. Der Eishaken wurde zusammen mit einem großen Firnstück herausgerissen. Nach 30 bis 40 Meter Sturz schlugen sie auf eine Platte auf und fielen dann ins Couloir..."

Bis heute gelten die beiden Berggefährten als verschollen.

(Quelle: Auszug aus dem Buch: "Der Bergsteiger Walter Stösser" von Paul Hübel von 1939)

Stösserführe - Stösserschlucht

Ersteigungsgeschichte der Drusenfluh Südwand (neu verfasst aufgrund Nachforschungen von Guntram Jussel und FBR 2009

1930: Fünfte Durchsteigung der Wand auf teilweise neuer Route durch Walter Stösser und Ernst Seyfried. Sie kletterten rechts des markanten Pfeilers in der Wandmitte in einer Kaminschlucht empor und erreichten in etwa zwei Drittel Wandhöhe die Strubichroute, wo sie in Höhe der Terasse, von Osten her in die Kaminschlucht einmündet. Diese Kaminschlucht, durch die die beiden dann weiter zum Gipfel aufstiegen, wurde später "Stösserschlucht" genannt.
Die so genannte "Stösserführe" ist jedoch nach den neu gewonnenen Erkenntnissen über Strubichs Routenführung nicht mehr als selbständige Route über die ganze Wandhöhe anzusehen, sondern als Variante im unteren Teil der Strubichroute. Das schmälert keineswegs die Leistung der Seilschaft Stösser-Seyfried. Die Kombination der beiden Routen war ursprünglich mit dem Grad V eingestuft und galt als lange, schwierige aber auch sehr gefährliche Klettertour.

Im Jahr 1950 ereignete sich in der Drusenfluh Südwand ein Bergsturz, der die Diechtl Gedächtnisroute, die Neumann-Stanek und die Stösserroute praktisch unbegehbar machte. Das gilt auch für den Teil der originalen Strubichroute, von der wir heute wissen, dass sie durch den oberen Teil der Stösserschlucht verläuft.
Trotz aller verwirrenden Geschichten: In den heutigen Führerwerken ist eine "Strubichroute" beschrieben, die ein Klassiker wurde. - Eine lange Kletterei in gutem Fels durch eine gewaltige Wandflucht.

(Quelle: Beitrag im Forum von Gipfeltreffen.at: Erstbegehung der Drusenfluh Südwand)

Aus dem Tourenbuch von Walter Stösser

1927

  • Schwierige Bergfahrten im Wilden Kaiser und in den Dolomiten
  • Predigtstuhl (Westwand "Dülferweg")
  • Totenkirchl (Westwand "Piazweg")
  • Zahnkofel (Ostwand)
  • Langkofel (Nordkante)
  • Marmolata (Südwand)
  • Cima della Madonna (Schleierkante, 18. Beg.)
  • Val-di-Roda-Kamm (5. Beg.)
  • Guglia di Brenta
  • Crozzon di Brenta (Nordkante)
  • Adamello
  • Presanella
  • Fleischbank (Ostwand "Dülferanstieg")

1928

  • Gehrenspitze (Nordwand "Battert-Riss", 1. Beg)
  • Dreitorspitze (Nordkante, 1. Beg)
  • Einserkofel (Nordwand "Dibona-Führe", 3. Beg)
  • Weißkugel (Ostwand)
  • Gimpel (Südostkante)
  • Babylonischer Turm (Südwestkante)
  • Gimpelturm (Nordostkante, 4. Beg)
  • Schüsselkarspitze (Südwand)
  • Scharnitzspitze (Südwand)
  • Musterstein (direkte Südwand "Kubanek-Spindler-Weg", 3. Beg.)
  • Partenkirchner Dreitorspitze (Nordkante, 1. Beg.)
  • Großglockner (über Glocknerwand - Teufelshorn)
  • Kleinste Zinne (Preußriß, 3. Beg.)

1929

  • Tofana di Roces (Südwand, 1. Beg)
  • Punta di Frida (Nordwand, 1. Beg)
  • Becco di Mezzodi (Südwand, 1. Beg.)
  • Große-Zinne (Nordwestkante mit anschl. Überschreitung aller Drei Zinnen, 1. Beg)
  • Civetta (Nordwestwand "Soleder-Führe", 4. Beg)
  • Mont Blanc (Brenvaflanke "Sentinelle Rouge", 2. Beg)
  • Mont Blanc (Peuterey-Grat)
  • Monte-Pelmo-Nordwand (3. Beg)
  • Grandes Jorasses

1930

  • Dent-d'Hèrens (Nordwand "Welzenbachweg", 3. Beg)
  • Versuch Marmolata (Südwestkante)
  • Cima di Ombrett (Südwestwand, 1. Beg)
  • Antelao (Westkante, 1. Beg)
  • Drusenfluh (Südwand "Stösserweg")
  • Totenkirchl (Westwand "Dülferweg")
  • Mönch
  • Jungfrau
  • Großer Drusenturm (Nordwestkante, 1. Beg.)
  • Campanile Torre (Nordostwand "Piazweg", 3. Beg.)
  • Campanile Torre (Ostwand, 1. Beg.)
  • Campanile di Val Montanaia
  • Torre Leo (Ostwand, 1. Beg.)
  • Torre del Diavolo (Dülferweg, 7. Beg.)
  • Guglia de Amici (Dülferkante, 15. Beg.)
  • Zinalrothorn
  • Matterhorn (Zmuttgrat)

1931

  • Skifahrten im Wallis und Berner Oberland (Allalinhorn, Strahlhorn, Alphubel, Rimpfischhorn, Castor, Dufourspitze, Breithorn)
  • Patteriol-Südostpfeiler (1. Beg)
  • Versuch Bietschhorn (Südostgrat)
  • Kleiner Vernel (Südwand / Südwestkante, 1. Beg)
  • Fasulwand (Westgrat, 1. Beg.)
  • Pateriol (Südostpfeiler, 1. Beg.)

1932

  • Erstbegehung Bietschhorn (Südostgrat, 1. Beg)
  • Oeschinenhorn (Westgrat)
  • Erstbegehung Marmolata (Südpfeiler / Südwestkante)
  • Bietschhorn (Nordwestflanke, 1. Beg.)
  • Begehung Marmolata-Südpfeiler mit Fritz Kast (Erstbegehung wird von ital. Seilschaft Michelucci/Perathoner aus 1929 beansprucht)

1933

  • Versuch Durchsteigung Matterhorn-Nordwand (Seilpartner Gustl Kröner kommt durch Steinschlag ums Leben / Gustl's Vater stammt ebenfalls aus Pforzheim)
  • Doldenstock (Westgrat und Nordwestgrat, 1. Beg.)
  • Blümlisalphorn (Westwand auf neuem Weg, 1. Beg.)
  • Balmhorn (Ostwand, 1. Beg.)

1935

  • Kleines-Doldenhorn (Westgrat, 1. Beg)

letzte Tour am 01.08.1935:

  • Versuch der Erstbegehung der Morgenhorn-Nordwand, der mit tödlichem Absturz von Walter Stößer und seinem Pforzheimer Partner Theo Seybold 200m unter dem Gipfel endete
Anmerkung: Unsere Aufstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit bzw. Richtigkeit. Die Daten wurden von verschiedenen Quellen zusammengetragen, teilweise mit unterschiedlichen bzw. abweichenden Jahreszahlen.
(Bildquelle: Stadtarchiv Pforzheim – Institut für Stadtgeschichte / Signaturen: N 186: Nr. 50, 951, 950, 35, 98, 489, 488, 490, Battert)

Anton Spiehler

Anton Spiehler(* 1848 in Byreuth; † 18. Juli 1891 in Memmingen )

Reallehrer, Bergsteiger, Forscher, Naturkundler und Wissenschaftler

Anton Spiehler gilt als Erschließer der Lechtaler und Allgäuer Alpen. Zahlreiche Erstbesteigungen, darunter die Erstbesteigung der damals noch unbestiegenen Noppenspitze zusammen mit Johann Schiffer im August 1890.

Von 1882 bis 1891 war Anton Spiehler Vorsitzender der AV-Sektion Memmingen. Die Erschließung des Lechtaler Alpenhauptkammes geht auf Anton Spiehler zurück, der 1885 ein mögliches Wegenetz entwarf und dessen Verwirklichung 1889 von den Alpenvereins-Sektionen Immenstadt, Kempten, Memmingen und Elmen beschlossen wurde. Die ersten Wege wurden 1892 zur Mädelegabel und zum Großen Krottenkopf gebaut, dann wurde der weitere Ausbau wegen finanzieller Engpässe durch den Bau zweier Hütten unterbrochen. Der Bau der Memminger Hütte geht ebenfalls auf seine Initiative zurück.

Benennung nach Anton Spiehler
  • Spiehler-Turm östlich der Parzinnspitze
  • Spiehlerkamm über dem Oberen Seewisee
  • Spiehlerweg zur Augsburger Hütte
  • Spiehlerturm-Scharte und die Spiehlerscharte/Faulewandscharte in den Lechtaler Alpen
Werke
  • Anton Spiehler: Das Lechthal. Geschichtliche und culturelle Studien (Deutscher und Oesterreichischer Alpenverein, Salzburg 1883)

Die Trettach-Südwand

Die Marchspitze (Der Ilfenspitz)
von und mit Josef Enzensperger (im September 1894)
Nach einem Vortrag im Akademischen Alpenverein München, erschienen im "Alpenfreund" 1894/95 Nr. 87-89 bzw. aus dem Buch "Ein Bergsteigerleben" von Josef Enzensperger


Heutzutage kann man in der Saison in gewissen Gebieten der Ostalpen, wie den Dolomiten, dem Zillertal und der Ortlergruppe, keine Tur mehr machen, ohne ale Augenblicke Gefahr zu laufen, dass man sich auf ein Steigeisen niederlässt, an dem Eispickel seines Nebenmenschen sich spießt, von einer liebenswürdigen vorankletternden Partie ein Dutzend Steine jeglichen Kalibers auf den Kopf bekommt. und dergleichen unangenehme Dinge mehr erfährt. Die Wege sind besät mit verfaulten Überresten von Kletterschuhen, an jedem Berge hat irgend jemand ein oder mehrere Seile hängen lassen, die schwersten Gipfel sind durch die Haufen von Eierschalen, Glasscherben, Wurstpapieren, die dort in friedlicher Eintracht beieinander liegen, nicht unbeträchtlich erhöht worden. Es wimmelt da oben förmlich von Hochturisten und solchen, die es sein wollen, auf alle möglichen und unmöglichen Berge, auf allen „vernünftigen“ und „unvernünftigen“ Routen gehen sie – oder werden sie hinaufgezogen. Dann gibt es wieder andere Gegenden, die vielleicht viel bequemer zu erreichen sind als jene, in die sich aber doch nur höchst selten ein Fuß eines solchen exklusiven Hochturisten verirrt, und es wird noch lange dauern, bis sich auch dorthin der Strom der eigentlichen Alpinisten ergießt. So kennt auch das Allgäu alle Arten von Sommergästen, nur eine fehlt fast gänzlich: der wirkliche Hochturist. „Allgäu – ach was, Grasberge, Mugel!“ [1]  Da haben wir des Pudels Kern. Ja, wenn sie es kennen würden, dann würden sie anders sprechen; so aber haben sie nur ein verächtliches Achselzucken dafür, das wir mit ihrer Unkenntnis entschuldigen wollen. Freilich, nehmen wir nur die gewöhnlichen Anstiegsrouten, so finden wir im Allgäu nicht recht viel, was den verwöhnten Geschmack des Dolomiten-Gourmands [2]  befriedigen könnte; aber wozu haben wir kletterlustigen Epigonen denn die famose Erfindung der „unvernünftigen“ Seiten und der „neuen Probleme“ gemacht!. Eine Traversierung der Höfats, der Nordgrat des Großen Krottenkopfes und ähnliches sind Turen, die auch dem anspruchsvollen Alpinisten genügen dürften. Von einer solchen Tur, die zeigen soll, dass es sich auch für den waschechten „Kletterfexen“ verlohnt, ein paar Tage dem Allgäu zu opfern, will ich heute erzählen.

Im Herzen der Allgäuer Berge thront der dreigipfelige Bau der Mädelegabel über den Quellflüssen des Hauptstromes des Allgäu, der Iller. An Höhe zwei anderen Gipfeln der Gruppe nachstehend, ist sie doch bei ihrer zentralen Lage und massigen Entwickelung die wahre Königin derselben. Als der Herrscherin weit und breit fehlt ihr auch nicht das Zeichen fürstlicher Würde, , der blinkende Schmuck des Hermelins; ein kleiner , aber echter Gletscher, der einzige der Gegend, schmiegt sich an die Felsenleiber der zwei höchsten Spitzen. Mächtige Felspyramiden, verbunden durch einen scharfen, tiefgescharteten Grat, so ragen die Hochfrottspitze und die Mädelegabel aus dem Eise empor, das sich um ihren Südfuß legt; gegen Norden aber, die Täler der Spielmannsau und Birgsau beherrschend, streckt sich der gewaltige Turm der Trettachspitze kühn und drohend in die Lüfte, bei Einödsbach, der Perle des Allgäu, ein Landschaftsbild von solcher Großartigkeit schaffend, dass sich wenige in den Kalkalpen mit ihm messen können.

Es war ein altes Lieblingsprojekt von mir, sämtliche drei Berge an einem Tage zu ersteigen, ein, wie ich mir ursprünglich dachte, nicht schweres, sonder nur zeitraubendes Unternehmen; denn die Anstiegsroute auf die Trettachspitze liegt auf der Nordseite, die auf die anderen Spitzen im Süden, und der Gedanke an eine direkte Überschreitung der trennenden Kluft wäre mir noch vor wenigen Jahren als die Ausgeburt des Gehirns eines Wahnsinnigen erschienen. Aber leise legte eine Erfahrung nach der andern, die ich in fremden Gebieten gesammelt, Bresche in die alte starre Doktrin [3]  und – zuerst schüchtern sich regend, aber energisch zurückgewiesen, dann immer kecker sein Haupt erhebend – reifte in mir allmählich der Entschluß heran: Und probieren tust du es doch einmal! im Vorjahre war ich (bei Gelegenheit einer Ersteigung der Mädelegabel direkt von Einödsbach) in der Trettachscharte zwischen Trettachspitze und Mädelegabel gestanden und hatte damals noch ratlos den Kopf geschüttelt, so gewaltig und unnahbar ragte, zum Greifen nahe, die Südwand der Trettach vor meinen staunenden Blicken empor. Damals wurde in Münchener Freundeskreisen das Problem vielfach diskutiert; aber nachdem einige Versuche ohne Resultat verlaufen waren, brach sich immer mehr – auch bei mir – die Überzeugung Bahn, dass hier nichts zu holen sei. Indes, ich hatte mir das Versprechen gegeben, einen letzten Versuch zu machen, und das kostete mich ja nichts; denn ich gehöre nicht zu den sonderbaren Leuten, die eine alpine Niederlage als Schande betrachten.

Ich verhehlte mir nicht, dass das Unternehmen, wenn überhaupt möglich, mit ganz außergewöhnlichen Schwierigkeiten verbunden sein werde; es war mir daher sehr angenehm, dass ich der Sorge um einen geeigneten Genossen enthoben war; weilte ja mein auf manch schwerer Bergfahrt bewährter Freund und Klubgenosse ing. cand. [4]  Neumann-Amberg zufällig im Allgäu. Wir verbanden uns Mitte September d. J. zu einem energischen Versuche; auch mein junger, tatendurstiger Bruder Ernst wollte endlich einmal in die Geheimnisse einer Felskletterei ersten Ranges eingeweiht werden.

Unser Plan ging, wie schon erwähnt, weiter als bloß auf die Südwand der Trettach; es sollte die ganze Gruppe überschritten werden. Der erste Teil derselben konnte keine erheblichen Schwierigkeiten bereiten und wurde gewissermaßen als Dreingabe oder als Entschädigung für den wahrscheinlichen Fall eines Misserfolges in der zweiten Hälfte betrachtet.
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Südwand der Trettachspitze (Skizze von Ernst Platz S. 59 - Ein Bergsteigerleben) So sah uns denn der späte Abend des 15. September auf dem oft begangenen Wege von Oberstdorf zum Waltenberger-Hause. Dort oben war große Gesellschaft (mit uns achtzehn Personen), die aber um halb neun Haut es sich schon auch den Matratzen bequem gemacht hatte; nur zwei uns bekannte Herren waren noch auf, die uns dann in liebenswürdiger Weise beim Wasserholen, Abkochen, Abspülen und ähnlichen kleinen Freuden des Hüttenlebens unterstützten. Als brave Alpinisten, voll Pflichtgefühl gegenüber den gestrengen Vorschriften meiner Sektion und voll Rücksicht auf unsere schlafenden Nebenmenschen, krochen auch wir schon zur Hüttenstunde, um zehn Uhr, aufs Lager. Undank ist der Welt Lohn – mein Schlafkamerad im Damenkabinett, ein älterer, etwas mürrischer Herr, äußerte mehrmals seinen Zweifel, ob wir um neun Uhr und nicht um elf Uhr, wie er steif und fest zu glauben schien, in der Hütte angekommen wären und ihn also noch rechtmäßigerweise in seinem Schlaf gestört hätten. Der gute Mann schien der sonderbaren Ansicht zu sein, daß, wer nach der Hüttenstunde anlangt, überhaupt draußen zu bleiben habe.

Ich war so gewissenlos, mir dadurch den Schlaf nicht im geringsten verkümmern zu lassen. Kurz vor vier Uhr weckten mich die polternden Schritte des Allgäuer Führerseniors Schraudolph, der die Treppe heruntertappte, um Feuer anzumachen; da mir dran lag, möglichst früh fortzukommen, so erhob auch ich mich und wanderte hinauf in den Dachraum zu meinen Gefährten, um sie vom üppigen Lager zu vertreiben. Sie hatten bei dem Mangel an Decken ein geniales Mittel angewandt, um sich der herrschenden Kälte zu erwehren; auf der einen Matratze lagen sie, die andere diente als Zudecke. Da aber jeder den anderen zu überlisten und ihm den größeren Teil der „Decke“ wegzuziehen suchte, so hatte die ganze Nacht keiner von ihnen ein Auge zugetan. Ja, praktisch muß man sein! Mit Geduld und guten Worten brachte ich sie trotzdem empor. Während die anderen nun den auf Hütten üblichen stundenlangen Morgenrummel inszenierten, waren wir schnell fertig geworden. In die Schuhe geschlüpft, als Frühstück ein hartes Ei und ein Stück Brot verzehrt – welcher Magenleidende entsetzt sich nicht beim bloßen Gedanken an ein solches Frühstück! – und nach einer Viertelstunde, um halb fünf Uhr, konnten wir die Rucksäcke über die Schulter werfen und den Weg unter die Füße nehmen. Der Himmel war bedeckt, hie und da schimmerte die bleiche Sichel des Mondes durch die Wolken und erhellte so zeitweise notdürftig den geringen Steig, der im Bockkar aufwärts zur Scharte zwischen Bockkarkopf und Hochfrottspitze führt.
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Der starke Neuschneefall der letzten Tage machte sich in diesem sonnengeschützten Winkel bald bemerkbar; Freund Neumann bahnte unverdrossen einen Weg durch die reichen Schneemassen. Nach fünf Uhr tauchten unsere Köpfe über den Grat empor; wir standen in der Bockkarscharte.
Der Anblick eines einzigschönen Lichtphänomens bannte den eilenden Fuß. Im Westen stand, halb untertauchend in zartem Nebel, der Mond und übergoß mit seinem silbernen Glanze die hintenliegenden, frisch beschneiten Gipfel. Welch ein Gegensatz auf der anderen Seite! Zu unseren Häupten lag in drohender Unbeweglichkeit eine blau-schwarze Wolkenbank, die am östlichen und südlichen Horizont nur einen schmalen, wie mit dem Messer abgeschnittenen Streifen freiließ. Der aber erstrahlte im Osten, da die Sonne noch unter dem Horizonte stand, im tiefsten Purpurrot, im Süden ging die sprühende Glut in blässeres Orange, tiefleuchtendes Blau und zartes Grün über und in diesem flammensprühenden, niederen Streifen hoben sich unendlich scharf und fein die dunklen Konturen der fernen Berge ab; eine dämonisch wilde Beleuchtung, ein Bild erhabenster Großartigkeit, das uns allen unvergeßlich bleiben wird. Unser früher Aufbruch hatte sich überreichlich belohnt. Erst die Kälte die uns schüttelte, mahnte uns nach zehn Minuten wieder zum Aufbruch. Links von uns wandte die Hochfrottspitze uns ihren Südwestgrat zu; wir packten sie frisch gleich von dieser Seite an, um so mehr, als uns von einer Ersteigung über den erwähnten Grat nichts bekannt war. Die Sache sah, von unten betrachtet, nicht leicht aus; um so größer war unsere Überraschung, nirgends wirkliche Schwierigkeiten zu treffen. Schon nach fünfundzwanzig Minuten standen wir auf dem ersten Gipfel, obwohl wir eine Zeit lang im Klettern einhalten mussten, um die nunmehr nachgerückten und unter den Wänden durchgehenden Partien nicht durch Steine zu gefährden. Wir hatten auf diese Weise den weitaus kürzesten Zugang zur höchsten Spitze der Gruppe gefunden, einen Zugang, der noch dazu auf keinen Fall schwieriger ist als die beiden anderen Routen, über die Ostwand und den Nordostgrat. Unseres Bleibens war nicht lange; das herrliche Lichtphänomen war geschwunden, die Aussicht eine von uns früher her wohlbekannte. Nachdem ich mich des Diebstahls der Visitenkarte eines Bekannten schuldig gemacht hatte – derselbe wird mir hoffentlich verzeihen - , brachen wir auf, um den Gratübergang zur Mädelegabel zu machen. Dort sammelten sich allmählich ganze Kolonnen von Turisten an; haufenweise sahen wir sie tief zu unseren Füßen als schwarze Punkte über das oberste Schneefeld des Ferners ziehen. Ein scharfer Grat brachte uns in wenigen Minuten auf den nördlichen, wahrscheinlich höheren Gipfel der Hochfrottspitze. Die nun folgende Kammwanderung zur Mädelegabel ist ungemein reizvoll. ohne größere Schwierigkeiten zu bereiten, erfordert sie doch Aufmerksamkeit auf Schritt und Tritt; es ist wirklich schade, dass der große Turistenstrom immer die Heeresstraße auf die Mädelegabel zieht, statt diese weit interessantere Route zu verfolgen. Man braucht ja nicht gerade ein engagierter Kletterer zu sein, um an einer netten, nicht allzuschweren Kletterei mehr Vergnügen zu finden als an einem Dahinbummeln auf wohlpräparierten Wegen. Sollte es da nicht auch auf Seite der Führer ein wenig an Initiative fehlen? Es würde mich speziell freuen, wenn diese Zeilen einen Allgäuer Führer veranlassen würden, seinen Herrn einmal, statt auf der gewöhnlichen Route, über den Südwestgrat auf die Mädelegabel zu führen; ihn selbst wird es nicht gereuen und sein Herr wird ihm Dank wissen.
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Dank unserer vorzüglichen Kondition und dem daraus resultierenden scharfen Tempo langte wir schon drei Viertelstunden nach Verlassen des zweiten Hochfrottgipfels auf der Mädelegabel an. Es war erst sieben Uhr; wir hatten, der Horizontaldistanz nach gerechnet, bereits die Hälfte unseres Tagwerks hinter uns. Da es ohnehin noch zu kalt war – die Felsen waren mit Reif überzogen - , so beschlossen wir, die Sonne, die allmählich über das Gewölk die Oberhand bekam, auf uns und die Felsen noch ein wenig einwirken zu lassen. Kurz nach uns erschien auch mein Schlafgenosse in der Damenkabine auf der Bildfläche; seine erste Frage war – diesmal nicht an mich gerichtet - , ob wir gestern nicht erst um elf Uhr ins Waltenbergerhaus gekommen seien. Der Mann besaß einen entschieden hartnäckigen Charakter. Oder sollten wir so alpin herabgekommen ausgesehen haben, dass er uns jedes Vertrauens für unwürdig hielt.

Die Trettachspitze von Südwesten (Lichtbild von Franz Scheck) Wir benützten unseren anderthalbstündigen Aufenthalt hauptsächlich zu einem eingehenden Studium der Trettach-Südwand. In Luftlinie drei- bis vierhundert Meter entfernt, aber getrennt durch die dreihundert Meter tief eingeschnittene Trettachscharte, steht drüben unser heutiges letztes Ziel. Es sieht ganz anders aus als so ein dünnwandiger, ruinenhafter Dolomitturm, von dem man glauben möchte, dass er unter dem Gewichte des Ersteigers zusammenbrechen müsste; nein, eine festgefügte runde Riesensäule mit blanken Plattenwänden, aber auch in ihrer trotzigen Wucht noch zierlich und von edelstem Ebenmaße, so strebt sie in die Lüfte empor, von dieser Seite das Ideal eines imponierenden Berges. Nehmt einen vierfach vergrößerten Großlitzner und ihr habt den Anblick der Trettach-Südwand! Und welch ein Plattenschuß [5]  und welche Neigung! Das bewaffnete Auge vermag nur winzige Einrisse zu entdecken, denen man mit dem Namen „Kamin“ viel zu viel Ehre erweist, und auch diese endigen hoch über der Scharte. Ohne jede Gliederung stürzt die kolossale Wand vom Gipfel in die Tiefe; nur ein sehr kundiges Auge vermag aus der helleren Färbung des Gesteins zu schließen, dass in der Mitte eine bandartige Zone von etwas geringerer Neigung eingebettet ist. Aber wie zu dieser Zone gelangen? Die hundert Meter von der Scharte bis zu ihrem unteren Ende, vollkommen senkrecht und unheimlich glatt, scheinen jede Aussicht auf den Sieg zu vernichten. Hier kann nur ein Versuch entscheiden; eine verbissene Energie war über uns gekommen, wenn auch das Hoffnungsthermometer auf Null gesunken war.
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Es war wenige Minuten vor halb neun Uhr, als wir aufbrachen, um den Nordgrat der Mädelegabel zur Trettachspitze zu verfolgen. Vier uns bekannte Herren, darunter ein Klubgenosse, waren noch auf dem Gipfel; das schöne Schauspiel, das sich im Laufe der nächsten Stunden vor ihren Augen abwickelte, nahm ihr Interesse so gefangen, dass sie ihren Aufenthalt bis zu unserer Ankunft auf der Trettachspitze ausdehnten. Diese Zuschauerschaft verursachte mir anfänglich ein etwas unbehagliches Gefühl; wenn man sich auch noch so oft vorpredigt, dass es für einen vernünftigen Mann durchaus keine Schande ist, umkehren zu müssen, so ist man schließlich doch auch nur ein schwacher Mensch und läuft Gefahr, in dem Bewusstsein, beobachtet zu werden, mehr zu wagen, als man dies unbeobachtet täte. Nachträglich dagegen war sie mir sehr angenehm , sonst hätten wir jedenfalls nach berühmtem Muster die „bösen Haunolde“ gespielt, oder es wäre wieder so gegangen, wie meinem Bruder und mir drei Tage vorher bei Gelegenheit der Traversierung der vier Höfatsgipfel, wo ein Allgäuer Führer, dessen Namen ich um seinetwillen verschwiegen will, gegenüber einem Dutzend Augenzeugen dieser Partie die Ausführung derselben mir der klassischen Begründung leugnete: „Das halte ich für unmöglich, also ist es nicht wahr.“ Von dem Armutszeugnis, das sich der Mann ausstellte, indem er eine nicht sehr schwierige Gratwanderung für völlig unmöglich erklärte, will ich ganz schweigen. Was hätte er aber gar erst jetzt gesagt, wenn wir überhaupt keine Zeugen gehabt hätten? Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen; es ist mir an und für sich ungemein gleichgiltig, ob Herr Müller, Huber oder Schultze glauben, ich sei irgendwo hinauf gekommen oder nicht; aber hinterrücks für einen Lügner oder Schwindler erklärt zu werden, ist nicht sehr angenehm.

Steiles Geschröfe und Geröll, untermischt mit stark geneigten Schneefeldern, bringen uns schnell in die Tiefe. Immer drohender baut sich drüben die Wand auf, immer wankender wird bei Freund Neumann und mir die Hoffnung auf einen günstigen Erfolg. Jetzt, von der Mitte des Nordgrates aus, scheint sie gar ganz überhängend zu werden. Der unheimliche Eindruck wurde nicht abgeschwächt, als wir kurz vor neun Uhr zu der breiten, mit wilden Felszähnen und Nadeln gespickten Trettachscharte gelangten. Mein junger Bruder meinte zwar in blindem Zutrauen zu uns und in jugendlichem Optimismus, „es gehe sicher“, während wir zwei älteren sehr zweifelnd unserer Häupter schüttelten. Diesmal sollte freilich ausnahmsweise die Jugend recht behalten.
Hier konnte, wie gesagt, nur der Versuch entscheiden; wenn das Wagnis überhaupt gelingt, das sehen wir, so wird es eine Kletterei, mit der sich nicht leicht eine zweite messen kann. Ich gestehe ehrlich, wenn wir uns nicht geschworen hätte, Hand an die Wand selbst zu legen, so hätte ich es wenigstens hier schon aufgegeben, nicht aus Mangel an Mut, sondern weil ich es für aussichtslos hielt; so aber eilten wir über die Zacken der breiten Scharte hinweg. Direkt vom Ende der Scharte ist die Wand unangreifbar, da sie in kolossalem, gelblichrotem Überhang auf derselben ansetzt; aber nach rechts führt ein Riß auf einen schmalen, losgesprengten Felspfeiler, der weit in die Wand hinausgebaut ist. Ein luftiges Plätzchen! Die Scharte fällt nach Osten senkrecht ab, sich anschließend an den wahrhaft furchtbaren, sechshundert Meter hohen Plattenschuß, der sich von der Trettach nach Südosten hinabsenkt in die Wilden Gräben. In diesem Plattenschuß stehen wir auf meterbreiter, aber sicherer Säule; über die Wand, die sich über unseren Köpfen erhebt, müssen wir hinauf.
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Wir gehen ohne Zaudern ans Werk. Vorzüglich trainiert, wie ich war, und in ausgezeichneter Disposition, erbat ich mir die Ehre des Vorantritts. Ich war entschlossen, das Äußerste, was ich noch verantworten konnte, zu wagen. Die Rollen wurden verteilt, die Seile bereit gehalten und die Schuhe ausgezogen. Ich hatte meine Kletterschuhe vergessen und kletterte daher in Strümpfen, worüber ich nachträglich sehr froh war; denn ich glaube nicht, dass ich in Kletterschuhen die Wand überwunden hätte. Der Überhang mit dem dieselbe sich sofort über dem Pfeiler aufbaut, hinderte uns an einer genauen Rekognoszierung, und so schätzten wir die Distanz bis zum ersten Ruhepunkt viel zu niedrig, ein böser Fehler, der leicht schlimme Folgen nach sich hätte ziehen können.

Skizze eines Bergsteigers von Ernst Platz Wir haben zwei Seile in der Gesamtlänge von fünfundvierzig Metern, ich binde jedes extra um die Hüften. Neumann in seinem ausgeprägten Solidaritätsgefühl befestigt die beiden anderen Enden an sich und verkeilt sich in den Riß, durch den wir heraufgeklettert waren, während mein Bruder als Beobachtungsposten an die äußerste Kante des Pfeilers tritt. Es war halb zehn Uhr, als ich Hand an die Felsen legte. Ich trete auf die horizontale Kante einer vom Fels etwas losgesprengten Platte und quere nach rechts, da dort die Neigung noch am wenigsten über die Lotlinie hinausgreift, aber da wird schon der erste Versuch, mich zu erheben, abgeschlagen – nirgends ein Griff! Dafür ersehe ich hier besser die unheimliche Beschaffenheit der Wand; im Durchschnitt ist sie wohl achtzig Grad geneigt, so dass man den Kopf weit ins Genick zurücklegen muß, um zu ihr aufzublicken, stellenweise hängt sie über, und nicht genug mit diesen schönen Eigenschaften, besitzt sie zu alledem noch den ungünstigsten Charakter, der dem Kletterer überhaupt entgegentreten kann: nach unten abbrechende Plattenlagen, die wie riesige Dachziegel übereinander greifen. Diese Formation musste von vornherein ungemein weit auseinanderliegende und spärliche Griffe und noch schlechtere Tritte bedingen. Neumann machte mich aufmerksam, dass es vielleicht weiter links besser gehen werde, wenn ich einmal eine Höhe von fünf bis sechs Metern gewonnen haben würde; da oben sehe er etwas, was wie eine kleine Leiste ausschaue. Ich tramversierte zurück und griff den Überhang da an, wo er am stärksten war; hier war wenigstens eine Idee von Griffen vorhanden. Die paar Meter zu der Leiste hinauf sind ungemein schwer und anstrengend, da die höchst spärlichen Griffe aus winzigen „Nasen“ bestehen, die man nur mit Daumen und Zeigefinger fassen kann; ein vertikaler Riß, in dem sich kein Griff befindet, muß zum Verklemmen des linken Fußes dienen, während der rechte untätig in der Luft baumelt. Weiter oben greift, wie gesagt, eine horizontale, wenige Zentimeter breite Leiste in den noch stärker werdenden, nunmehr ganz unpassierbaren Überhang hinein. Da sie grifflose ist, so ist es sehr schwierig und erfordert peinlichste Beobachtung des Gleichgewichtes, sich an ihr aufzustützen und mit gestützten Händen unter dem Überhang nach rechts zu hangeln. Nunmehr befindet man sich nicht mehr über dem Pfeiler, sondern frei in der vierhundert Meter hoch ohne jeder Gliederung abstürzenden Wand. Es folgt eine sehr schlechte Traverse nach rechts, teilweise nach abwärts. Die Neigung der Platten, die ich dann nach links aufwärts erklettere, wird etwas geringer, dafür der Fels unheimlich glatt. Ich klettere mit äußerster Vorsicht höher und höher, bis neue Überhänge an die Zähigkeit der Finger die höchste Anforderung stellen. Auch sie werden überwunden, noch immer ist an der furchtbaren Wand kein Ende abzusehen – da ertönt von unten der Ruf: „Nur noch drei Meter Seil!“ Jetzt rächt sich, dass ich beide Seile umgeknüpft habe. Was tun? Retourklettern? Unmöglich! Mit einer Hand loslassen und das eine Seil abknüpfen? Bis jetzt habe ich nicht einen einzigen Tritt gehabt, der mehr als Fingerbreite gemessen hätte – also auch unmöglich.

Nur ruhig Blut! Im Notfall muß ich eben weiter und die Seile nachschleifen, bis ich stehen kann. Ich streckte mich und schaue umher, um mich ja nicht in eine Sackgasse zu verklettern, da fällt mein Blick links auf – was ist das? Hurra! ein echter veritabler Tritt! Nie in meinem Leben habe ich einen solchen freudiger begrüßt als hier. Es ist zwar nur so groß wie eine Hand, aber wunderbar eben, und ich bin durch das Vorhergehende nicht verwöhnt. Im Nu bin ich drüben; die rechte Hand klammert sich an den senkrechten Felsen fest, ich stehe auf dem linken Beine und strecke das rechte in die Höhe – „wie eine Gans“, werden sich die Beobachter drüben gedacht haben. Der Seilknoten, den ich mit der linken Hand zu lösen suchte, zeigte sich selbstverständlich möglichst hartnäckig. Indes „mit viel Geduld und wenig Behagen“ wurde ich damit doch fertig; das Seil flog hinab, im Nu hatte es Neumann an das andere befestigt und „Weiter!“ erscholl es von unten. Es war ein erlösender Ruf, denn allmählich find der einseitig angestrengte Fuß doch zu erlahmen an. Wenn nur die verfluchte Wand ein Ende nähme! Ich komme wieder in enorm schweres Terrain. Wie die Finger sich festkrallen in den winzigen Rissen und der ganze Körper unter der Anstrengung bebt! Endlich, endlich ein weiterer Riß, der sogar eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Kamin hat! Es ist zwar überhängend, aber oben ist ein Block eingeklemmt, auf den muß ich um jeden Preis der Welt. Wieder eine sehr schlechte Traverse um die Ecke in den Riß hinein, in den ich gerade die rechte Schulter zwängen kann, und dann werden mit frischem Mute die überhängenden Stellen links forciert, winkt ja in nächster Nähe das Ziel. Die letzte Stelle erinnert sehr an den Block im Zsigmondy-Kamin der Kleinen Zinne, nur sind dort vorzügliche Griffe und Tritte, hier aber fast gar keine. Noch zwei Meter – hurra, ich stehe auf dem Blocke! Ein Juhschrei: - „Gewonnen!“ So ertönt es zu meinen unsichtbaren Kameraden, ein Juhschrei und Bravorufen erschallt als Antwort von der Mädelegabel herüber von unseren Beobachtern, die ich in der Hitze des Gefechtes ganz vergessen hatte, so dass ich im ersten Moment verwundert hinüberblickte.
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Ich setzte mich auf den Block, der für Einen gerade Platz bot, ließ die Füße ins Leere baumeln und gönnte mir die notwendige Erholung, während die anderen unten sich „reisefertig“ machten. Ein gleich schwindeliges Plätzchen habe ich noch nicht gesehen, auch am Winklerturme nicht. Unter meinen Füßen sechs Meter Überhang, dann vier Meter lang eine ungefähr fünfundsiebzig Grad geneigte, spiegelblanke Platte und dann Luft – vierhundert Meter Luft! Das ist noch mehr als „der Kater am Dach“, denke ich mir vergnügt. Dann beschäftige ich mich damit, die Höhe der forcierten Wand am Seil abzumessen – ganze achtunddreißig Meter durchweg schwerster Kletterei ohne jeden Ruhepunkt!

Von einem Aufseilen der Pickel und Rucksäcke kann nicht die Rede sein; von den Nachfolgenden muß eben jeder mit seinem Rucksacke klettern. Meine Schuhe und allen meinen Proviant nimmt Freund Neumann in seinen Rucksack, das andere läßt der Schlauberger liegen. Jetzt kommt mein Bruder an die Reihe; da geht es freilich schneller als bei mir. Keuchend, als ob die Brust ihm zerspringen wollte, taucht er unter mir auf und der wunderbare Unsinn, den nur ein echter Alpinist begreift: „Scheußlich, aber schön!“ entringt sich seinen Lippen.

Als er bei mir heroben war, seilte ich mich los und wart das freie Seilende hinab. Da ich den Standpunkt Neumanns nur vermuten, nicht sehen konnte und der Wind das Seil beim Entwickeln stets auf die Seite trieb, so dauerte es einige Zeit, bis er im Besitze desselben war. Ihm war, wenn auch nicht die schwerste, so doch jedenfalls die anstrengendste Aufgabe zugefallen; man muß diese Wand kennen, um ermessen zu können, was es heißt, hier mit einem zwanzigpfündigen Pack auf dem Rücken zu klettern. Endlich stand auch er bei uns. Wir brachten das Kunststück fertig, zu dritt auf dem kleinen Block Platz zu finden. Es gehört nicht zu den größten Freuden des irdischen Lebens, fast eine halbe Stunde auf einem rauhen Steine zu sitzen, namentlich wenn er in der Mitte eine scharfe Spitze hat, und so war ich herzlich froh, als ich mich wieder erheben konnte. Es kostete mich indes einige Anstrengung, bis ich in dem Durcheinander von Armen und Beinen meine eigenen gefunden hatte und nun weiter konnte.

Der Riß vertiefte sich, schloß aber nach sechs Metern unter einer gewaltigen, viele Kubikmeter haltenden Felsmasse, die über uns hereinhing. Doch rechts von ihm hing ein ebensolcher Block aus der Wand heraus, der oben eine horizontale Schneide hatte; das Ganze sah aus wie ein dicker Schwebebaum, den man aus der Wand herausgeschoben hatte. Die Schneide war mit Zacken und Zähnen gespickt, die ich ihr fein säuberlich ausriß, bevor ich mich auf sie hinaufschwang und im Reitsitz drauf niederließ. Da ich mich wieder anseilen wollte, kam Neumann mit dem Seile nach; nun saßen wir alle zwei auf der anderthalb Meter langen Schneide, und ich muß gestehen, dass die Situation auf uns beide einen recht ungemütlichen Eindruck machte, obwohl unser Gewicht im Verhältnis zu den vielen Zentnern des Blockes ein minimales war. In dem Kamin nebenan eingeklemmt, wartete mein Bruder, der seine Ungeduld kaum mehr bezähmen konnte.
Indes boshaft, wie ein Seil zu ungelegener Zeit immer ist, hatte es sich natürlich, um mit Freund Teufel zu reden, "zwei- bis siebzehnmal" verhängt, und so bedurfte es einer gewaltigen Auffrischung der Turnkünste, die wir einst am Schwebebaum gelernt, bis wir nach einem seiltänzerartigen Hin- und Her- und Übereinanderweg- und Untereinanderdurchsteigen endlich den richtigen Zipfel erwischt hatten. Ich kroch an dem überhängenden Blocke zu unseren Häuptern nach rechts, wo wieder eine glatte Platte mit anschließendem, überhängendem Kaminchen nach links auf seine Höhe führt. Leider wechselte jetzt mit einem Male die Güte des Gesteins. War es zum guten Glück an der schweren Wand im allgemeinen fest gewesen, so wurde es jetzt ungemein faul und brüchig. Ich erinnere mich, in dem seichten Kamin (es war mehr eine Wand mit einem Riß darin als ein Kamin zu nennen) einmal in halber Verzweiflung gewesen zu sein, gerade wo wieder ein Stück sich schwach überhängend erhob. Drinnen im Kamin konnte ich nicht bleiben; denn alle eingeklemmten Steine waren unsicher, und links in der freien Wand brach jeder Vorsprung vom kleinsten bis zum größten aus. Ein ganzes Peletonfeuer [6]  ging über meine Kameraden hinweg, die aber unter dem überhängenden Block brillant geschützt waren. Es war keine leichte Arbeit, über die paar Meter hinwegzukommen, doch schließlich gelang es. In ähnlichen seichten Rissen, quer durch gewaltige, wirr aus der Wand hervorspringende Felsblöcke, die den besten Eindruck des Haltlosen und Sturzdrohenden machten, hielten wir uns nach links gegen eine gratartig hervortretende Rippe, die die Bugstelle der Südwand zur Südwestwand markiert. eine steile, flache Rinne neben ihr gestattete ein wesentlich leichteres und schnelleres Fortkommen, da hier jener schon obenerwähnte, etwas weniger geneigte Plattengürtel eingelagert ist. Ich bemerkte hier ein kleines Graspäckchen, aus dem eine violette, glockenförmige Blume hervorsproß; dies erste und einzige Zeichen lebender Natur in der starren und toten Majestät der Felsenwüste berührte und eigentümlich, wie ein Hoffnungsstern des Gelingens. Hier kam uns jetzt alles spielend leicht vor; es zeigte sich eben die psychologisch leicht zu erklärende Erscheinung, dass nach Überwindung ungewöhnlich großer Schwierigkeiten der Maßstab, den man anlegt, momentan stark in die Höhe geschraubt wird. Wenn wir das Wagestück unternommen hätten, die Trettach-Südwand im Abstieg zu versuchen – ein Plan, den wir für den Fall des Misslingens im Aufstiege unausgesprochen in der Seele trugen - , so wären uns wahrscheinlich auch diese Stellen schwierig vorgekommen. Jetzt war nur mehr ein einziges Fragezeichen für das Gelingen der Tur vorhanden: der Plattengürtel war zu Ende und die gelbrote Schlusswand bäumte sich senkrecht empor.
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Kletterei an der Trettachspitze (o. Herkunftsnachweis) Sie sah bedrohlich genug aus und schien eine zweite Auflage der untersten Wand werden zu wollen. Als wir aber ganz an die herangekommen waren, öffnete sich zu unserer angenehmen Überraschung plötzlich ein Ausweg. Nach rechts eingeschnitten führte ein verborgener Kamin in die Höhe; unter einem Block durchkriechend – wir entschwanden hier auf einmal den Blicken unserer sehr erstaunten Zuschauer, die gar nicht begreifen konnten, was wir hier an der scheinbar schwersten Stelle der gelben Wand zu suchen hätten, - gelangten wir auf glatte Platten, die uns in einen trichterförmig, ganz obern am Gipfelgrat eingelagerten Kessel brachten. Ich wartet wenige Minuten unter dem Gipfel, dessen Kreuz ich schon fast mit den Händen berühren konnte, bis meine Gefährten bei mir Standen; dann zwangen wir unsere malträtierten Füße noch zu einigen raschen Sprüngen und betraten (um halb zwölf Uhr) gleichzeitig den in heißem, schweren Kampfe errungenen Gipfel. Die stolze Trettach-Südwand war bezwungen.

Ein aus vollem Herzen kommender Jauchzer kündete den vier geduldigen Zuschauern auf der Mädelegabel unseren Sieg. Glückwünsche erschallten als Antwort und es entspann sich im weiteren Verlaufe eine regelrechte Unterhaltung von Gipfel zu Gipfel, die auf unserer Seite Neumann mit Stentorstimme [7]  führte. Es war ergötzlich zu beobachten, wie sich die Verschiedenheit unserer Naturelle in unseren Beschäftigungen gleich nach der Ankunft auf der Spitze äußerte. Bei uns Älteren der Realismus, beim Jüngsten der Idealismus; mein allererster Gedanke war es, meine Schuhe von Neumann zu verlangen (der mir ihre Auslieferung in der Wand mehrmals aus Bequemlichkeit verweigert hatte) und sie dann mit einem unsagbaren Gefühl der Befriedigung über meine armen, nunmehr fast strumpflosen Füße zu ziehen; Freund Neumann dagegen versicherte, dass er fürchterlich Hunger habe und fiel mit großem Eifer über meinen so fürsorglich von ihm mitgenommenen Proviant her; mein Bruder Ernst aber konnte noch immer nicht recht glauben, dass er wirklich über dies fürchterliche Wand heraufgestiegen sei, und ergoß sich in freudigen und bewundernden Ausrufen. Auf seine jugendliche Seele hatte offenbar die Tur – wenigstens äußerlich – den mächtigsten Eindruck gemacht. So saßen wir seelenzufrieden da oben, aßen, tranken, rauchten und plauderten. Für die zwei Älteren von uns war es noch aus besonderen Gründen ein weihevoller Moment. Vor Fast genau drei Jahren hatten Freund Neumann und ich auf diesem Gipfel gestanden. Das Gefühl, das damals unsere Brust durchwogte, war ein zum mindesten ebenso freudiges gewesen wie jetzt, wo wir doch auf einem unvergleichlich schwereren Wege die Spitze erkämpft hatten; war es ja damals unser erster schwieriger Gipfel gewesen. Auf diesem Berge hatte der hochalpine Gedanke von uns Besitz ergriffen, damals war uns der Sinn für den unendlichen Reiz aufgegangen, den die Schwierigkeiten der Alpenwelt auf einen frischen, tatenfrohen Geist ausüben. Und jetzt schloß sich die Reihe an dem Gipfel, von dem sie ihren Ausgang genommen hatte; denn ich glaube nicht, dass wir im Felsgebirge eine noch größere Anforderungen stellende Spitze erklimmen werden.

Es stellte sich Nebel ein, aber nicht der graue, feuchte und ungemütliche Nebel der Regenwolken, sondern jene lichtdurchfluteten, weißen Fetzen, die uns neckisch umfließen, spielend an den Felstürmen hinauf- und hinunterkriechen, bald sich zusammenballen, bald wieder zerstieben und da und dort einen unvermuteten Ausblick auf irgend ein sonnenbeschienenes Fleckchen Erde gewähren. Wir empfanden dankbar die Güte von Mutter Natur, die uns wohl heute zur Belohnung einen besonders günstigen Eindruck hinterlassen wollte.
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Nach mehr als einstündigem Aufenthalte brachen wir auf, um über den Nordostgrat abzusteigen. Gewaltige Neuschneemassen bedeckten noch die Nordseite des Berges und Eiszapfen hingen an den Wänden herab; gerade in der Mitte des Grates zerriß der Nebel und ließ uns drüben vier kleine Punkte erspähen; es waren unsere Bekannten, die langsam über die weiten frischen Schneefelder der „Schwarzen Milz“ dahinzogen. Auch uns bereitete der Schnee einige Schwierigkeit und so brauchten wir über eine Stunde, bis wir auf dem vom Nordost- und Nordwestgrat wie von Zangen eingeschlossenen Firnfelde standen. Neumann und ich hatten ursprünglich vor, unter tiefem Absteigen und Umgehen der Trettachspitze auf der Westseite am gleichen Tage noch die drei Pickel und meinen Rucksack zu holen, waren aber neidisch auf Bruder Ernst, der gemütlich ins Tal bummeln konnte, und ließen es infolge einstimmigen Beschlusses bleiben. Selten sind wir so eines Herzens und einer Seele gewesen wie in diesem Punkte. Wozu auch die schönen Erinnerungen des Tages durch solch mühselige, viele Stunden lange "Schinderer" verderben? Das Gepäck liegt übrigens noch in seinem Depot und gedenkt einen langen Winterschlaf zu machen. Ein rascher Dauerlauf brachte uns in anderthalb Stunden in die Spielmannsau, der Abend sah uns wieder in Oberstdorf. -
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Ich möchte zum Schlusse noch ein kleines Resumé über die Schwierigkeiten der Trettach-Südwand geben. Ich habe dieselben in starken Farben geschildert, so wie sie mir eben vorkamen. Es sollte mich zwar nicht wundern, wenn irgend einer jener Dolomithelden, mit deren Erscheinen auf der Bildfläche – wenn man nur nach ihren Publikationen urteilt und die Erzählungen ihrer Führer nicht hört – eine neue Ära in der alpinen Klettertechnik begonnen haben muß, nächstens in Begleitung eines Bettega oder Antonio Dimai ins Allgäu käme und einige Wochen später in den „Mitteilungen“ zu lesen wäre, die Südwand der Trettachspitze weise eine oder zwei „nicht uninteressante“ Stellen auf. Ich habe mich eben noch nicht zu jener – schwindelnden Höhe alpiner Leistungsfähigkeit emporschwingen können, die mich zum Beispiel bei der Traversierung der Fünffingerspitze eine einzige „ziemlich schwierige“ Stelle finden ließe, und – füge ich hinzu – hoffentlich bringe ich es auch nie so weit. Jene zweifelhaften Heronen des Alpinismus, denen alles leicht ist, mögen sich einmal an den alten Spruch „Selbst ist der Mann“ erinnern und ihren Dimai oder Sepp Innerkofler hinten nachklettern lassen; ich habe allerdings begründete Zweifel, ob ihre Führer ihnen das gestatten würden, nachdem natürlich jedem Menschen sein Leben lieb ist. Nicht dass ich verlangen wollte, es solle ein jeder so weit gehen, als er vollkommen selbständig gehen kann; o nein, so lange einer nicht wie ein Mehlsack hinaufgehisst werden muß, sollen die herrlichen Genüsse des Felskletterns nicht nur den Felsenmännern erster Klasse vorbehalten sein. Aber jene Pharisäer haben mir stets das Blut in Wallung gebracht, welche die oft nur zu ausgiebig ausgenützte Hilfe ihrer ausgezeichneten Führer später als Piedestal [8]  ihres Ruhmes benützen. Über diesen größten Übelstand im ausübenden Alpinismus könnte man heute schon ganze Bücher schreiben; hoffentlich verbreitet sich einmal eine berufenere Feder als die meinige mit schonungsloser Klarheit über diesen wunden Punkt.

Trettachspitze, Mädelegabel und Hochfrott von Einödsbach aus (Lichtbild von Franz Scheck S. 73) Doch ich sehe, ich bin ganz von meinem ursprünglichen Vorhaben abgekommen, eine Wertung der Schwierigkeiten unserer Tur zu geben. Ich nehme zum Vergleich einen in letzter Zeit allgemein bekannt gewordenen Gipfel, der als ein Typus sehr schwerer Kletterei gilt, den Winklerturm in der Rosengarten-Gruppe. Vergleiche sind immer etwas misslich, so auch hier; denn der Winklerturm verlangt reine Kamin-, die Südwand der Trettachspitze fast nur Wandarbeit. Ich möchte jedoch, so paradox es klingen mag, den Satz aufstellen: Wenn Kamine und Wandstellen gleiche technische Schwierigkeiten haben, so ist die Wandstelle doch schwerer. Ein erfahrener Kletterer wird mich verstehen. Abgesehen davon sind die wirklich abnorm schwierigen Stellen bei der Trettach-Südwand weit länger als beim Winklerturm, bei dem eigentlich nur eine einzige solche vorkommt: der berühmte enge Riß; sie bietet auch vor allem nicht die ausgezeichneten Ruhe- und Versicherungspunkte, wie sie bei letzterem alle zehn bis fünfzehn Meter vorkommen. Zudem ist die ganze Kletterei länger, wenn auch die sehr großen Schwierigkeiten sich nur über eine Strecke von hundert Meter Höhe erstrecken. Alles in allem muß ich, was technische Schwierigkeiten anbelangt, der Trettach-Südwand einen wesentlichen Vorrang zugestehen. Jedoch spielen bei einer solchen Abschätzung die Individualität des Abschätzenden, seine jeweilige Disposition und ähnliche Dinge mit, so dass man nicht leicht zu einem unangreifbaren Resultate gelangen kann. Daran aber dürfte in Anbetracht der Wesensverschiedenheit zwischen Kamin und Wand nicht zu rütteln sein, dass die Trettach-Südwand an Gefährlichkeit für einen nicht sehr guten Alpinisten und an Exponiertheit den Winklerturm bei weitem übertrifft. Ich möchte daher jedermann, der seiner Kraft und vor allem seine Zähigkeit und Gewandtheit nicht vollkommen sicher ist – und man gibt sich da nur zu leicht einer Selbsttäuschung hin -, aufs eindringlichste vor einem Versuche an dieser Wand warnen; denn jeder Leichtsinn, jede unüberlegte Bewegung rächt sich hier mit unfehlbarer Sicherheit auf die schrecklichste Weise. An alle kaltblütigen Felsenmänner ersten Ranges aber – jedoch auch nur an diese – richte ich die Aufforderung: Widmet ein paar Tage dem verkannten Allgäu! Ihr findet dort an jener stolzen Südwand der Trettachspitze eine Tur, die euren höchstgespannten Anforderungen genügen wird.
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Bemerkungen:
Online-Veröffentlichung der Erzählung "Die Trettach-Südwand" aus dem Buch von Josef Enzensperger "Ein Bergsteigerleben" (1924), basierend auf dem ursprünglichen Vortrag in der AV-Sektion Allgäu-Kempten in 1895.
Rechtschreibung, Zeichensetzung und Satzbau sind im originalen Zustand belassen worden. Bei den Originalskizzen handelt es sich um die in der Zeitschrift vom DÖAV veröffentlichten echten Zeitdokumente aus jener Zeit. Ergänzend wurden historische Ansichtskarten in die Erzählung eingebaut, die jedoch nicht Gegenstand der Originalliteratur waren.
Zum besseren Verständnis einiger von Enzensperger benutzter und im heutigen Sprachgebrauch weithin unbekannter Ausdrücke wurden gesonderte Fußnoten angebracht (Fußnoten werden auch beim Überfahren mit der Maus angezeigt) bzw. am Ende der Erzählung in einem Glossar zusammengefasst.

Zusätzlicher Hinweis: Die Aufarbeitung bzw. Bereitstellung dieses Dokumentes ist im Sinne der Verfügbarmachung eines alpinhistorischen literarischen Werkes zu verstehen. Die Tourenbeschreibung ersetzt keinesfalls aktuelle Bergführerliteratur.

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Glossar:
[1] Mugel: bedeutet sinnngemäß Erhebung, Höhenrücken, Buckel, Berg, Bodenerhöhung (Quelle: synonyme.woxikon.de) -->zurück
[2] Gourmand: wurde im 18. Jahrhundert als „jemand, der gerne viel und gut isst“ genannt (Quelle: wikipedia.de) -->zurück
[3] Doktrin: Eine Doktrin (vom lateinischen doctrina, „Lehre“) ist ein System von Ansichten und Aussagen; oft mit dem Anspruch, allgemeine Gültigkeit zu besitzen (Quelle: wikipedia.de) -->zurück
[4] Candidatus Ingenieur (cand. Ing.): Ein Student im Hauptdiplom eines Ingenieurstudiengangs (Quelle: abkuerzungen.woxikon.de) -->zurück
[5] Plattenschuss: bezeichnet in der Bergsteigersprache ein steiles Stück glatter übereinanderliegender Felsplatten -->zurück
[6] Peloton: wurde im 18. Jahrhundert beim preußischen Heer der achte Teil eines Bataillons bezeichnet. Beim Peloton-Feuer schossen die acht Pelotons abwechselnd jeweils geschlossen eine Gewehrsalve ab, sodass der Eindruck eines „rollenden Feuers“ entstand. Das Abfeuern der Gewehre wurde auf den Flügeln der Schlachtreihe begonnen und zur Mitte fortgesetzt (Quelle: wikipedia.de) -->zurück
[7] Stentor: ist der Name eines griechischen Kämpfers in der Sage vom Trojanischen Krieg, dessen Stimme so laut gewesen sein soll wie die von fünfzig anderen Männern zusammen. Im übertragenen Sinn sagt man deswegen von einem Menschen, der sehr laut brüllen kann, er habe eine Stentorstimme (Quelle: wikipedia.de) -->zurück
[8] Piedestal: Ein Piedestal oder Postament ist ein aufwändig gestalteter Sockel von Gebäuden, Statuen oder Säulen (Quelle: wikipedia.de) -->zurück


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Die Gruppe der Mädelegabel

Die Gruppe der Mädelegabel
von Ernst Enzensperger (1907 / 1909)
veröffentlicht zunächst in der Zeitschrift des DÖAV 1907 und in 1909 als eigenständiger Spezialführer "Die Gruppe der Mädelegabel" von Ernst Enzensperger


Die Mädelegabel von Osten Das Gebiet meiner Abhandlung ist räumlich eng begrenzt, doch drängt sich auf dem engen Boden soviel des Interessante, dass seine an Zahl geringen Gipfel nach vielen Richtungen einer eingehenden Betrachtung wert erscheinen. Schon rein äußerlich ist die Vormachtstellung wohl begründet, welche die Mädelegabelgruppe vor den übrigen Bergen des Allgäus einnimmt. Wer das Illertal betritt, sieht in der Mitte des mächtigen Halbrundes über dem schwarzen, waldbekleideten Massiv des Himmelschrofens firngeschmückte Felshäupter von untadeliger Pyramidenform aufragen; vom Oberstdorfer Kessel scheinen die Haupttäler des Illerquellgebiets an den Sockel dieser Berge zu leiten; und ihre Spitzen scheinen höher zu sein als alles, was sich im Umkreis erhebt. Was der erste Anblick versprach, bestätigt die Wirklichkeit — die Mädelegabel ist das Herz der Allgäuer Bergwelt.

Der Umfang des Gebiets ist bestimmt durch die wenigen, aber eindrucksvollen Hochgipfel, die Einödsbach den Ruhm eines der schönsten Punkte unserer Nördlichen Kalkalpen verschafft haben. Die zwei bedeutendsten Erhebungen gehören dem Allgäuer Hauptkamm an; von der Bockkarscharte (2.411 m) erhebt er sich, ohne seine bisherige Richtung von Südwest nach Nordost wesentlich zu ändern, zum Kulminationspunkt [1] der Gruppe, der Hochfrottspitze (2.648,8 m) senkt sich zu einer Scharte von 2.563 m, um dann zum bekanntesten Gipfel, der Mädelegabel (2.645,7 m) aufzusteigen; letztere entsendet einen kurzen Grat nach Osten, der zugleich den Anfang einer stärkeren Schwenkung des Hauptkamms zur östlichen Richtung kennzeichnet. Ein mächtiger Seitenast löst sich von der Mädelegabel nach Norden ab, der sich von der Trettachscharte (2.461 m) zum formenschönsten Gipfel der Gruppe, der Trettachspitze (2.595,4 m) emporschwingt; er senkt sich danach rasch zu den unbedeutenden Erhebungen des Wildengundkopfs (2.238 m) und Spatengundkopfs (1.991,4 m) und weiterhin zur Einsattelung des Einödsbergs (ca. 1.850 m) und steigt dann wieder zu den Felszinnen des Himmelschrofenasts an, die außerhalb des Bereichs dieser Abhandlung liegen. Ein Seitenast von geringerer Bedeutung löst sich von der Hochfrottspitze nach Westen ab und trägt zwei unbedeutende, aber schroffe Zacken, die von Einödsbach aus eines gewissen Eindrucks nicht entbehren, die Berge der guten Hoffnung.

Die Wilden GräbenNach Westen entwässert sich die Gruppe in zwar tief eingeschnittenen, aber wenig bedeutenden Rinnsalen zum Bacherloch; der einzige Ferner des Allgäus, der Schwarzmilzferner, senkt sich ohne wesentliche Abflußmengen nach Südosten gegen das Schochental zu; die gewaltige Schlucht der Wilden Gräben stürzt von der Scharte östlich der Mädelegabel (2.471 m) mit ihrer düsteren, spaltendurchsetzten Lawinensohle in einer einzigen Flucht von über 1.000 m Höhe nördlich zur Einmündung in den Sperrbachtobel ab.
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Geologische Profil durch die Mädelegabelgruppe Der geologische Charakter der Gruppe bietet an sich schon manches Interessante, da zwei verschiedene Formationen, der Jura and die Trias, mit ihren verschiedenartigen Gesteinen am Aufbau der sichtbaren Partien beteiligt sind und so eine reizvolle Abwechslung des Landschaftcharakters bedingen. Doch fesselnder gestalten sich die Erscheinungen, wenn wir offenen Auges unser Gebiet im einzelnen betrachten. Wir stehen in Einödsbach im Angesichte des ganzen Mädelegabelstocks. Noch eben haben wir den Bereich des starren Dolomits durchwandert, durch dessen festes Gestein sich die ungestüme Stillach eine tiefe Klamm gegraben hat; jetzt sehen wir uns plötzlich inmitten weicher Gesteine, die einer jüngeren Formation angehören; sie reichen mit ihren charakteristischen Bildungen viele hundert Meter in die Höhe; auf ihnen ruhen hoch oben mächtige Felsgebilde, die augenscheinlich einen anderen geologischen Charakter tragen. Und wenn wir uns auf einer Wanderung der Zone dieser Felsengipfel nähern, erkennen wir mit Staunen die bekannten Formen des Dolomits wieder, die wir im Tale getroffen, und fragen uns verwundert, wie dieses altere Gestein über den jüngeren Schichten lagern, wie es von seinem Schwestergestein im Tale durch so gewaltige, dazwischenlegende Massen getrennt sein kann. Doch noch größer wird unser Staunen, wenn wir des Rätsels Lösung hören und zugleich erfahren, dass alles, was vor unseren Augen so mächtig in die Höhe ragt, an anderer Stelle entstanden ist, dass die Gesteine, welche den eigentlichen Grundstock unserer Gruppe bilden, unsichtbar dem Auge, tief unter dem kolossalen Bergwall liegen; selbst die tief eingerissenen Schluchten des Bacherloch und der »Wilden Gräben« haben ihre Schichten noch nicht bloßzulegen vermocht. Sie liegen begraben unter den ungeheueren Massen der berühmten »rhätischen Überschiebung«, deren Geschichte Rothplatz in eingehender Weise festgelegt hat. G. Schulze schreibt in seiner erschöpfenden Abhandlung über das Gebiet, dass »unter dem Einfluss ostwestlich gerichteter Spannungen das Faltensystem — mindestens 30 km im Osten des behandelten Gebiets — längs einer Spalte zerriss und der östliche Gebirgsteil auf einer im Allgemeinen sanft ansteigenden Fläche über den westlichen geschoben wurde. Der ungeheuere Widerstand, welcher diesem Schub von Seiten der Unterlage entgegengesetzt wurde, führte zu abermaligen Zerreißungen der Decke und zur Überschiebung einzelner Teile derselben. So entstand die ausgezeichnete Schuppenstruktur in den Allgäuer und Lechtaler Bergen.

Wenn auch unsere Gruppe geologisch des selbständigen Charakters entbehrt und nur einen bescheidenen Teil eines Gebiets bildet, das die Spuren eines gewaltigen Naturvorgangs in charakteristischer Weise trägt, so bietet sie doch insofern hervorragendes Interesse, als in ihr der doppelte Vorgang der ursächlichen sogenannten »Allgäuer Überschiebung« und einer mehr lokalen zweiten Überschiebung, die als Folgeerscheinung der ersten zu betrachten ist, besonders deutlich ausgeprägt ist. Der mächtige Sockel des Gebirges verdankt seine Entstehung der »Allgäuer Überschiebung«, die ihre gewaltigen Massen über den überwiegenden Teil des Allgäus gewälzt hat. Während nördlich unserer Gruppe die obere Decke des Lias von der Erosion zum großen Teil zerstört ist und der Dolomit zutage tritt, sind im Gebiet der Mädelegabel die oberen Schichten der Schubmasse, bestehend aus Fleckenmergel, in ihrer ursprünglichen Mächtigkeit erhalten geblieben. Denn die lokale zweite „Lechtaler Überschiebung schob einen Schutzschild über ihre Gesteine; sie wälzte eine neue Bruchscholle über unsere Gruppe, die in ihrer Bewegung sich der vorhandenen Gliederung der „Allgäuer Schubmasse“ anschmiegte. Die "Lechtaler Schubmasse" bildet die prächtigen Dolomitzinnen, die aus dem Westkar der Mädelegabel sich erheben; die auf- und absteigende Linie, mit denen ihr Sockel vom Fleckenmergel sich abhebt, ist zwar auf der Westseite meist unter dem Gehängeschutte begraben, den das vieltausendjährige Zerstörungswerk der Erosion von den Hochgipfeln herabgetragen hat; aber im Osten der Gruppe tritt die Grenze der beiden Formationen klar und scharf am Fuße der Trettach-Ostwand zutage.

Einödsbach mit Mädelegabelgruppe Reizvoll ist das Landschaftsbild, das auf dieser Grundlage sich im Laufe der Jahrtausende entwickelt hat; reizvoll vor allem ist's vor dem traulichen Wirtshaus in Einödsbach. In die weichen Schichten des Fleckenmergels hat die Erosion, dort wo die Schutzdecke fehlte, gewaltige Wunden geschlagen; düstere Mauerbrüche mit jäh ausgezackten Rändern begrenzen den Steilabfall zur Talsohle; an seinem obern Rand dehnt sich eine wellige, steil geneigte Fläche, die regellos von tief eingeschnittenen Wasserrinnen durchzogen ist; zahlreiche Wandstufen von wechselnder Höhe steigern die ungemeine Lebendigkeit und Abwechslung des Bilds. Ein kecker Felssporn von untadeliger Pyramidenform, doch in seinen bescheidenen Größenverhältnissen ein entsprechendes Glied seiner Formation, krönt das mannigfaltige Bild; hinter ihm weitet sich ein mächtiges, eindrucksvolles Kar mit gleichförmigen Schuttströmen; darüber aber hebt sich als vollendeter Abschluss die ungegliederte Pracht der Dolomitgipfel — zwei gleichgeartete Felskuppen voll edlen Linienschwungs, flankiert von wild emporgereckten Zinnen. Doch erst der Zauber der Farbe gibt dem Landschaftsbilde seinen höchsten Reiz. Der Anblick ist unvergleichlich, wenn in hellem Grau, von weißen Nebelschleiern umwölbt, die Felshäupter gegen den tiefblauen Himmel kontrastieren, wenn das Auge von den glänzenden Schneefeldern und dem ruhigen Grau der Schuttströme zu dem reichen, in allen Schattierungen spielenden Grün herabgleitet, das vom Tale bis hoch hinauf die Hänge schmückt. Denn die weichen Schichten des Sockels sind außerordentlich fruchtbar und treiben die Vegetationsgrenze in Höhen, in denen sonst nur totes Gestein zu herrschen pflegt. Der Eindruck dieser Fruchtbarkeit wächst erst zu seiner vollen Macht, wenn man auf wohlgepflegtem Pfade bergeinwärts ins Bacherloch wandert und die ungemeine Üppigkeit der Vegetation auf sich wirken läßt, die stellenweise sogar die Spuren der zerstörenden Erosion zu verdecken weiß. Bald sind's dichte Zwergbüsche, bald Lattichblätter von ungewöhnlicher Größe, dann wieder hohes Gras mit Blumen durchwirkt, bald wieder Alpenrosen von dunklem Rot, durch die der Weg aufwärts führt; und wer die Stellen kennt, sieht Edelweiß in der herrlichen langstieligen Form von den Steilflanken in überreicher Menge herabwinken.

Erst im Hintergrunde des Bacherlochs wird die Vegetation spärlicher; die braunschwarzen, lettigen Hänge treten in unverhüllter Nacktheit hervor und das schmutzige Weiß mächtiger Lawinenreste füllt die tiefen Rinnen ihrer Gliederung. Wenn dann der Blick von dem gewaltigen, schuttüberrieselten Gewölbe der Lawinentrümmer, unter deren Wölbung der Bach hervorbricht, emporgleitet zu den haltlosen Steilhalden der Seitenflanken, dann mag dem Beschauer wohl ein schwaches Bild der fürchterlichen Naturgewalt entstehen, die im Winter hier ihr großartiges Zerstörungswerk vollbringt. Doch auch die stärkste Phantasie vermag den überwältigenden Eindruck der Wirklichkeit kaum zu ersetzen. Wer aber einmal die wehenden Schleier der Staublawinen von den obersten Wänden der Mädelegabel sich loslösen und in immer dichteren Kaskaden über die mannigfach unterbrochenen Schneeflächen herabwallen sah, bis endlich eine ungeheure, schneeglitzernde Wolke mit Donnern und krachen in die Talsohle herniederbrach, wer im Frühsommer dunkle Spalten hoch oben in den steilgeböschten Firnhalden aufklaffen sah und schaute, wie plötzlich eine ganze Flanke in tausend Schollen zerbrach und in langsamem, majestätischem Flusse durch die Mauerbrüche sich ins Tal ergoß, wer einmal zwischen den scharf abgeschnittenen. haushohen Lawinenmauern in atemloser Spannung sich aufwärts mühte, immer bewußt, daß an den glattgescheuerten Seitenwänden ein Entrinnen kaum möglich wäre, wer auf der um viele Meter erhöhten Sohle des Tals Berghäuser fremdartig herabgrüßen sah, die im Sommer hinter den untersten Mauerstreifen sich verbargen, der wird den unvergeßlichen Eindruck für sein Leben bewahren. Er wird es kaum begreifen, daß auf diesen, von den fürchterlichsten Gewalten heimgesuchten Berghängen der Sommer die üppigste Flora hervorzuzaubern vermag und daß zahlreiche dunkle Tannen bis hoch hinan an den schwach ausgeprägten Rippen emporklettern.

Nachdem am sogenannten "Wändle" die unterste Steilstufe auf breitem Pfade überschritten ist, nimmt plötzlich das Landschaftsbild einen neuen Charakter an. Zwar ziehen noch immer leichtbegrünte, lettige Hänge aufwärts und über der trennenden Schlucht des Bacherlochs erheben sich steilflankige Berge des Lias. Doch als Herrscher sind die Felshäupter des Dolomits in den Bereich des Landschaftsbilds getreten. Über dem traulichen Waltenberger Haus dräuen graue, klotzige Felswände; als breiter, plattengepanzerter Rücken, von reinen Firnrinnen durchzogen, erhebt sich der Bockkarkopf über den Schutthalden, vom jähen Aufschwung des Bacherlochs grüßt der bizarre Turm des Wilden Männle über den schmutzigen Lawinenresten, die in einer stillen Bergnacht sein Ebenbild verschlangen. Und wer trittsicheren Fußes vom Waltenberger Haus weg den Eingang in das großartigste Kar am Westfuße der Gruppe zu finden weiß, sieht sich ganz umgeben von der Einsamkeit starrender, glatter Felswände. Doch auch wer den gebahnten Pfad der Mädelegabelbesteiger verfolgt, tritt bei der Wendung um die das Bockkar verbergende Ecke urplötzlich aus dem Bereich liasischer Gesteine in das unbestrittene starre Reich des Dolomits. Schuttströme aus festen Steinen kommen von der Bockkarscharte herab, die in den Kranz der umgebenden Felsen eingerissen ist. Ein ungewohntes Gefühl, wenn in der letzten abschließenden Wandstufe Fuß und Hand statt des weichen Geschiebes festen Fels zu fassen bekommen!

Doch eine neue Überraschung harrt dessen, der aus dem eingeschlossenen Felskar in die schmale Scharte tritt, welche den Übergang zur anderen Seite der Gruppe vermittelt, — das weite Gipfelmeer eines umfassenden Rundblicks. Wenige Schritte über einen trennenden Querriegel weg und das Landschaftsbild erfährt einen vollständigen Wechsel — das ist der Lechtaler Schubmasse anderes Gesicht. Enttäuscht mag mancher in den wenig eindrucksvollen Felsmauern die prächtigen Gipfel des Einödsbacher Talschlusses wieder erkennen und in den ausgedehnten, in ihrem unteren Teile von prächtigen Miniaturspalten durchzogenen Firnmassen des Mädelegabelferners keine volle Entschädigung finden; enttäuscht mag mancher auf die scheinbar einförmigen, schwarzbraunen, lettigen Massen der Schwarzen Milz herabblicken, die in ihren weitgestreckten, ebenen Flächen einen ermüdenden Weiterweg zu versprechen scheinen. Doch im Wandern wächst das Interesse. Vereinzelte Felszacken und Felstrümmer, verloren und zerstreut auf der schwarzen Erde, regen den Geist an und er müht sich, zu ergründen, woher die fremden Gesteine in dieses Reich gekommen sind; er „müht sich, zu erfassen, weshalb diese weitausgedehnten Felder in reicher Abwechslung getreue Abbildungen jener mächtigen Schlucht tragen, die auf der anderen Seite des Gebirgs bis in das lnnerste des Bergs eingefressen ist, weshalb sie aber doch in ihrer bescheidenen Entfaltung in der Landschaft schon auf geringe Entfernungen verschwinden, geschweige denn, daß sie ein Gebilde von ähnlicher Großartigkeit der Formen zu erzeugen vermochten. Und der sinnende Geist sieht des Rätsels Lösung. Der Schutzpanzer der Dolomitdecke breitete sich einst über das ganze, sanftgeneigte Gewölbe; doch auch an ihm nagte die allgewaltige Zerstörerin Erosion und ließ nichts zurück als spärliche, zerstreute Trümmer; nun seine schützende Hülle zerbrochen, ist der Weg für die Gierige frei und sie gräbt und wühlt Tag für Tag, Stunde für Stunde in dem weichen Material, wie sie's drüben getan, und wird einstens dieselbe Wunde in den Leib des Bergs geschlagen haben. Wir sehen, wie die Berge unserer Gruppe, die von Einödsbach aus scheinbar ein in sich geschlossenes Ganze darstellen, nichts sind als ein Teil eines gleichgearteten Bergwalls, der sich weithin nach Süden erstreckt.

Wir schauen aber auch in den Berghäuptern über dem Ferner mehr als unförmliche Felsmassen, wir schauen die letzten totgeweihten Zeugen einer fernen Vergangenheit. Noch sind sie festgefügt; doch auch ihrer harrt das Schicksal der Mauerzinnen des Kratzers, die, zerborsten und zerrissen, das Lied vom Untergehen auch in der Welt der Felsen singen —— das düstere Lied, das wie kein anderes ein Echo in jedes Menschen Brust findet. Doch wenn der Eindruck der zerstörten Felsmauern am mächtigsten auf das Herz zu wirken beginnt, taucht immer gewaltiger und gewaltiger eine festgefügte Riesensäule im Hintergrunde über die Lettenhänge empor —— ein unerschütterlicher Recke aus grauer Vorzeit steht ernst die Trettach über der wildesten Lawinenschlucht des Allgäus. Nur wenigen ist es vergönnt, die Großartigkeit dieses Innersten der Bergwelt zu schauen; denn nur ein schmales, kaum kenntliches Heuersteiglein führt dort, wo die Täler des Sperrbachs und der Wilden Gräben sich vereinigen und der breite Sperrbachtobelweg nach links zu dem Vorsprung des »Knie« emporleitet, quer durch steile Grasflanken nach rechts zu der Querrippe, die den Einblick in die verborgene Schlucht verdeckt; nur die hochaufgetürmten Riesenblöcke, die kolossalen Anhäufungen von Schutt, durch die sich metertief die Fluten ihre wilde Bahn gerissen. verraten dem Kundigen, welch ein Schauspiel den Menschen über der trennenden Scheide erwartet. Ist dann die Sohle der „Wilden Gräben“ erreicht, so folgt ein stundenlanges Emporsteigen über harten, steilen Firn.

Bald fesseln die mächtigen Steintrümmer und Überreste von Rasenstücken das Auge, die —— ein Wahrzeichen der winterlichen Zerstörung — auf kleinen Schneepfeilern über die Lawine mit ihren ausgewaschenen Muschelformen ernporragen; bald erregen die Spannung schwarze, ausgefressene Löcher, aus deren Wölbung unheimlich das Gurgeln des verborgenen Bachs emportönt; bald sperrt eine Spalte, wie auf einem Gletscher, die ganze Breite. Über allem thronen hochoben lettige, wasserüberronnene Steilwände zur Linken, eine unübersehbare blanke Plattenflucht zur Rechten, die Schneeflucht aber zieht als schmutziggraues Eis empor zu einer Scharte hoch an den Wänden der Mädelegabel. Nur wenige schauen dies Bild; doch die vielen, welchen diese Pracht versagt bleibt, ahnen nicht, daß sein fast eindrucksvollerer Anblick nur wenige Minuten vom menschenüberlaufenen Weg entfernt, in beschaulicher Ruhe genossen werden kann. Von der Kemptner Hütte weg führen wellige Wiesenhänge nach Westen; man quert sie etwas ansteigend und gelangt nach einer kleinen Viertelstunde an den Rand der „Wilden Gräben“. Schwellende Moospolster breiten sich unter den Füßen hin. Sie werden steiler und steiler; endlich verliert sich der Blick in der verschwimmenden Tiefe; auf der finsteren Lawinenrinne bleibt er haften. Anfangs ziemlich breit, spitzt sie sich nach oben in einzelne Zungen zu, deren Ende von Schutt überrieselt ist; ihr mächtigster Ast strebt in steilem Aufschwung zur Mädelegabelscharte empor; eine glattgefegte, schmutzige Steinfallrinne durchreißt das graue Eis. Unheimlich ist die Färbung der schwärzlichdunklen Mergelwände. die von der Sohle weg stellenweise bis zur Kammlinie sich erheben; der Eindruck des Haltlosen, Unbeständigen spiegelt sich in den Hunderten von kleinen Tälern und Schluchten, welche die Erosion in ihre Steilflanken gegraben; man glaubt zu sehen, wie sie rückwärts schreitet und immer höher hinauf in das weiche Gestein frißt; und fast liegt in den regelmäßigen Linien ihrer Zerstörung etwas Künstlerisches. Plötzlich enden die feinen Konturen; die mächtige Zerstörerin hat einen starken Gegner gefunden; unvermittelt heben sich die grauen, fast ungegliederten Plattenwände in einer Flucht von vielen hundert Metern empor zu dem Riesenturm der Trettachspitze; jäh fällt die Silhouette zur Trettachscharte; über einer schneebedeckten Terrasse erhebt sich breit die Mädelegabel.
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Baptist Schraudolph So reich die Geschichte des Bodens ist, so wenig weiß uns die Geschichte von den Menschen zu erzählen, die etwa in den verlorenen Tälern unseres Gebiets lebten. Wohl ist der südliche Hang leichter zugänglich und von alters her werden die Alpen des Schochentals sowohl wie die über dem Hauptkamm auf bayerischer Seite liegende Obermädelealp vom Lechtal aus bezogen; und von der reichen Mahd hat auch die Gruppe ihren Namen erhalten.
Die Täler der bayerischen Seite schützten sich durch ihre Unzugänglichkeit selbst. Merkwürdige Namen wie Segunt, Marzergulo und Arbanten [2], die Örtlichkeiten in der Nähe Einödsbachs bezeichnen, mögen zwar dem Sprachforscher Anlaß zu Nachforschungen geben; doch werden sie kaum mehr bedeuten als einzelne erhaltene Blätter einer verlorenen Geschichte, zu denen die Fortsetzung fehlt. Zur Zeit der Bauernkriege werden Einwohner von Einödsbach ausdrücklich als Teilnehmer der Bewegung genannt; es bestand also damals schon diese Siedelung mit dem heutigen Namen. Von der jetzigen Niederlassung wurde das älteste Haus 1593 erbaut, des alten Baptist Schraudolph Gasthaus kann auf ein ehrwürdiges Alter von fast 250 Jahren zurückblicken. Von der nächstgelegenen Wohnstätte im Trettachtal, der Spielmannsau, wäre zu bemerken, daß ihre Bewohner einstens unter österreichischer Herrschaft standen. Ein kräftiger Menschenschlag lebt heute im Bereiche der Mädelegabel; er ist ein würdiger Nachwuchs jenes Geschlechts, das, Sommer wie Winter in ständiger Fühlung mit den heimischen Bergen, einstens ein gut Teil Erschließungsarbeit der Gruppe besorgte. Im Sommer allerdings läßt der Trubel des Fremdenverkehrs nur wenig vom Wesen der Einheimischen verspüren. Einödsbach ist ein Ort geworden, den jeder Oberstdorfer Sommerfrischler gesehen haben muß; ganze Karawanen pilgern alltäglich den breiten Saumpfad zum „südlichsten, ständig bewohnten Punkte Deutschland“; dann herrscht vor dem traulichen Holzbau wimmelndes Leben. Das interessante Bild aller möglichen Typen des modernen Fremdenpublikums steht im merkwürdigen Kontrast zu der überwältigenden Majestät der Bergwelt. Fragen schwirren; man erzählt sich manch Schauerliches von den Wänden dort oben; mancher fühlt sich berufen, den Mentor für noch Unwissendere zu spielen — dann hebt ein großes Umtaufen der Gipfel, ein eifriges Erzählen von Schaudermären an.

Vom Bacherloch kommt eine Partie, ängstlich erwartet von den Angehörigen, ob ihres halbstündigen Ausbleibens; ein kleiner Junge bringt einen triefenden, vom Sacktuch umhüllten Klumpen; von weitem schon ruft er die Freudenbotschaft, daß er wirklichen Schnee gefunden und mitgebracht; der ganze Tisch bewundert den „wirklichen Schnee“. Eine neue Partie erscheint, voran ein Führer, dann im stolzen Schritt ein paar forsche blutjunge Burschen. „Die kommen von der Mädelegabel“, raunt es an einem Tisch; die allgemeine Aufmerksamkeit wendet sich den Neuangekommenen zu; mancher erhebt sich, sie näher zu betrachten. Mancher schaut mit musterndem Blick zum kühnen Zacken der Trettach, den vorhin der „Kenner“ als Mädelegabel bezeichnet hat; mit leisem Kopfschütteln wendet der Blick sich wieder den Jünglingen zu; stolz empfangen sie den Tribut der allgemeinen Aufmerksamkeit. Doch sie ist rasch verflogen; der alte Baptist Schraudolph ist unter der Türe erschienen und wackelt langsam die Stufen herab: jedes will mit dem „berühmten Mann“ wenigstens einige Worte gesprochen haben; die Unvertrautheit, mit Einheimischen zu verkehren, ein gewisses Gefühl der Überlegenheit den Bauern gegenüber lässt manchen ein ungeeignetes Wort gebrauchen; die treffende Antwort bleibt nie aus; ein lautes Gelächter der nicht Betroffenen zwingt den Vorlauten zum unrühmlichen Rückzug. Schmunzelnd setzt sich der alle Baptist nach „getaner Arbeit“ zu seinen Freunden; doch die herzliche Vertrautheit einsamer Stunden vermag in der fremdartigen Umgebung schwer aufzukommen; die hagere kleine Gestalt selbst, bekleidet mit der gewohnten Flickenhose, das kühngeschnittene Gesicht mit den hellen Falkenaugen, mit schütterem Haupthaar und schütterem Knebelbart, braucht einen anderen Hintergrund als das hastige Treiben des Fremdenstroms. — Im Winter erwacht die ernste Tätigkeit zu vollem Leben. Das ist eine schwere, arbeitsvolle Zeit, wenn für die Burschen des Tals, die sich gegenseitig unterstützen, das Bacherloch für die Heuabfuhr an die Reihe gekommen ist. Man staunt die steilen, zierlich im Schnee gedrechselten Pfade an, welche die Steilhalden empor zu den höchsten Hängen führen; man staunt über die Trittsicherheit, mit der die Pfade begangen werden, man staunt noch mehr über die unvergleichliche Schneid beim Transport der schweren Heuhallen ins Tal herab; man wundert sich über die Ruhe, mit der die Burschen sich in die hintersten Gründe des lawinenbedrohten Bacherlochs begeben, man wundert sich aber nicht mehr, wenn man sie einmal sorgenden Gesichts den Gang verweigern sah. Ihr unfehlbarer Instinkt läßt sie erkennen, wenn die Sache nicht mehr geheuer ist; und wenn dann wirklich die Lawine an der bezeichneten Stelle losgegangen ist, erkennt man neidlos die überlegene Sicherheit ihrer Ortskenntnis an und Vertraut sich gerne dem unbefangenen Rat, der gerne gegeben wird. Der Dienst im schneeerfüllten Tobel ist schwer; er hat ein eigenes Hilfsmittel erzeugt; wenn der Schnee nicht trägt, nimmt der Einödsbacher statt Stock und Pickel die Schneeschaufel und indem er sie geschickt handhabt, weiß er treffliche Stufen am steilen Hang in überraschend kurzer Zeit herzustellen. Blitzschnell gleitet er dann, auf der Schaufel sitzend, den Stiel als Leitstange in den Händen, über die Höhen hinab.

Ausblick vom Bockkarkopf gegen Südwesten: Ellenbogner Spitz Der Platz vor dem Hause ist leer, tagelang hat die Sonne nicht mehr ins Tal geschienen; um den runden, warmen Ofen hängen die schneedurchtränkten Werkzeuge der frostigen Arbeit; man fühlt den Hauch der winterlichen Einsamkeit — der alte Baptist hat seinen Hintergrund gefunden. Wir sitzen als Gleichgestellte und Gleichgesinnte in der brühwarmen Stube; er fängt zu erzählen an von manchem Uninteressanten, von noch mehr Interessantem; wir staunen sein enormes Gedächtnis an; da taucht er tief zurück in die Vergangenheit und Schweigen herrscht in der Stube —— wir hören von Zeiten, wo die Berge ringsum noch keine Menschen auf ihren Scheiteln sahen, wir hören von mutigen Geißbuben, die sich vor keinem Teufel fürchteten, und wir vernehmen wieder andächtig Namen wie Zör und Barth und Winkler — und die Vergangenheit umgibt den alten, unscheinbaren Mann mit einem unnennbaren Zauber. Er ist vorbei; die zähe Kraft ist nicht ganz ohne eigene Schuld früher gebrochen, als die Natur ihr eigentlich bestimmt hatte; schwere Krankheit fesselt den Alten ans Bett. Doch wenn man der stillen Stunden gedenkt; wo man Erinnerungen fürs Leben erhielt, die nicht mehr geschenkt werden können, drängt sich der unheilige Wunsch auf, die Zeiger der Zeit um Jahre zurückzudrehen, um noch einmal den verlorenen Zauber genießen zu können. ——
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Spielmannsau mit Wilden Gräben und Trettachspitze Die Gruppe ist heute in der mustergültigsten Weise durch Weganlagen und Schutzhüttenbauten zugänglich gemacht. Zwei Einbruchspforten öffnen den Zugang von Norden; von Oberstdorf führen gute Fahrstraßen sowohl nach Spielmannsau im Trettachtal wie nach Birgsau und Einödsbach im Stillachtal. Alle genannten Orte bieten ausreichende Unterkunft und Verpflegung. Von beiden Endpunkten führen gut bezeichnete Wege zum Einödsberg, der sowohl den Übergang von einem Tal ins andere als auch den Anstieg zur Trettachspitze vermittelt; wahre Reitwege sind von den beiden Talstationen zu den Haupthütten der Gruppe geführt. Ein prächtiger, aus dem Felsen gesprengter Steig leitet in nahezu gleichmäßiger Steigung durch den Sperrbachtobel zur wohleingerichteten und bewirtschafteten Kemptner Hütte, von dort zum Fuße der Mädelegabel; ein ebenso bequemer Pfad, der die Fährlichkeiten des früher gefürchteten und doch so zahmen Wändles umgeht, verbindet seit dem Jahre 1906 das Waltenberger Haus, das nunmehr ebenfalls vergrößert und bewirtschaftet wird, mit Einödsbach einerseits, mit der Bockkarscharte anderseits. Dort vereinigt er sich mit dem berühmten »Heilbronnerweg«, der von der Rappensee Hütte über die Hochgipfel des Allgäuer Hauptkamms führt; wenige hundert Meter weiter schließt sich am Fuß der Mädelegabel der Ring der Wege, die um die Gruppe gelegt sind. Bedauerlicherweise ist die Genehmigung des Verbindungswegs zwischen Waltenberger Haus und Einödsberg quer durch das Mädelegabelkar aus Jagdgründen verweigert worden; doch ist bei der warmherzigen Förderung berechtigter touristischer Interessen durch Bayerns Regenten wohl zu hoffen, daß auch dieses großartigste Kleinod der Gruppe in nicht allzuferner Zeit der Allgemeinheit zugänglich gemacht wird. Denn gegenwärtig wird die Querung der steilen Mergelflanken vom Waltenberger Haus ins Innere des Kars zwar dem Trettachersteiger keine Schwierigkeit bereiten, der durch sie am kürzesten den Fuß seines Bergs erreicht, wohl aber dem Durchschnitt der an Allgäuer Terrain nicht gewohnten Bergsteiger kaum anzuraten sein. Er stellt ähnliche Anforderungen an die Trittsicherheit und Schwindelfreiheit wie jeder Steig, der vom normalen Wege in der Liasregion ableitet. Die Schwierigkeit der Orientierung ist nicht allzugroß; es ist nur zu merken, daß man, an der Begrenzungskante des Kars angelangt, einige 50 m emporsteigen muß, um geschickt ins Kar zu queren. Weit größer sind die Schwierigkeiten, welche jeder Versuch bietet, weglos vom Tal aus durch das Gewirr von Steilwiesen und Wändchen, dichtem Gestrüpp und kleinen Tobeln an den Fuß der Wände zu gelangen. Von den eigentlichen Gipfeln ist nur die Mädelegabel leicht; doch ist auch bei ihr ungeübten Personen die Mitnahme eines kundigen Begleiters unbedingt anzuraten. Die schwierigeren Routen weisen zwei charakteristische Eigenschaften auf: die Grate sind meistens sehr steil, scharf und von großer Brüchigkeit, doch nicht allzuschwer; Wandkletterei dagegen gestaltet sich meistens sehr schwierig; die vorherrschenden Platten sind zwar zumeist fest, doch griffarm und von enormer Steilheit und Ausgesetztheit; Kamine sind äußerst selten und wenn vorhanden, häufig Ungangbar; große Steilschluchten, wie sie für andere Dolomitgruppen vorherrschend sind, fehlen bis auf die Schlucht zwischen Mädelegabel und Trettachspitze. Die Orientierung ist durchschnittlich einfach, was sich aus dem Fehlen ausgedehnter Wände und der geringen Gliederung erklärt; die Beurteilung der Gangbarkeit läßt starke Täuschungen zu; die Erfahrung hat gelehrt, daß manches, was in anderen Gebieten nicht gerade sehr schwierig erscheinen möchte, hier sehr schwer oder unmöglich ist. So macht die sehr schwierige Trettachspitze von der Mädelegabel aus gesehen einen weit besseren Eindruck als manche an Schwierigkeiten weit ärmere Dolomittour; und der vermeintliche „Schmittkamin“, der die Westwand der Trettachspitze durchreißt und dem mit der „Dolomitenbrille“ behafteten Kletterer einen tief einschneidenden, schaurigen Schlund verspricht, ist nichts als eine flache, hängende, ungangbare Rinne. So bietet die Gruppe eine ganze Stufenleiter von Touren vom Mittelschweren bis zum Schwierigsten.
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Die touristische Geschichte der Mädelegabelgruppe zerfällt in drei große Hauptabschnitte. Der erste umfasst den Zeitraum von den schüchternen Anfangsversuchen der Mädelegabelbesteigung in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zur denkwürdigen Ersteigung der Trettachspitze durch H. v. Barth im Jahre 1569. Der erste Grundstock zur Kenntnis der Gruppe wird gelegt, die einzelnen Gipfel werden erstiegen, die Zugangslinien von den Talstationen zur Hochregion gefunden. Einheimische und Fremde sind an der Ersteigungsgeschichte beteiligt, erstere mit überwiegendem Erfolg.

Der zweite Zeitraum reicht bis zum Jahre 1894. Die gefundenen Zugangswege zum Hauptgipfel der Gruppe werden für ein größeres Publikum zugänglich gemacht; Weganlagen und Schutzhüttenbauten bilden die Grundlage für einen reicheren Besuch; das touristische Interesse konzentriert sich auf den einen Gipfel und seine bequemen Zugangslinien; die Oberstdorfer Führerschaft paßt sich den nicht allzuweit gehenden Bedürfnissen der Touristen an. Die beiden anderen Gipfel der Gruppe bleiben stark vernachlässigt; neue Touren werden selten gewagt.

Der dritte Zeitraum bringt die vollständige touristische Erschließung der Gruppe. Man wendet sich den bisher vernachlässigten Bergen zu und eröffnet eine Reihe von neuen Anstiegslinien; die Schwierigkeit mancher gefundenen Routen lenkt das Interesse auch der Hochtouristen auf das wenig beachtete Gebiet. Die Erschließung wird vollendet, so daß wohl kaum mehr neue Wege von einiger Bedeutung gefunden werden können. Hand in Hand damit geht eine ständige Verbesserung der Zugangswege und Unterkunftsverhältnisse durch die beteiligten Sektionen: auch dieser Teil der Entwicklung dürfte als abgeschlossen gelten können.

Die Einzelheiten der Ersteigungsgeschichte seien der Besprechung der einzelnen Gipfel vorbehalten; Spiehlers Abhandlung „Allgäuer Alpen“ in der „Erschließung der Ostalpen“ bietet die beste Zusammenstellung der älteren Geschichte unseres Gebiets. Viele der Gewährsmänner des verdienten Allgäukenners sind jetzt ebenso wie Spiehler selbst tot; so gibt denn gerade dieses Kapitel eine wertvolle Illustration für den inneren Wert jenes großangelegten Werks, das die meistens nur mündlich vererbte Kunde von den ersten Zeiten des Bergsteigens gerade zur rechten Stunde gerettet hat, bevor ihre frische Erinnerung mit den Zeugen der Vergangenheit unwiederbringlich ins Grab sank. Man kann von Glück sprechen, wenn man heute noch einen der alten Garde zu sprechen weiß und aus den frühen Jahren der Erschließung der Gruppe Neues erfährt, Altes verbessern kann, was die oft unvermeidliche unrichtige Auffassung einer einheimischen Darstellung auch dem gewissenhaftesten Chronisten an Irrtümern in die Feder gespielt hat.
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I. Die Mädelegabel (2.645,7 m)

Gruppe der Mädelegabel Der gewöhnliche Weg: Dr. Bernhard Zör hat lange Zeit als der erste Ersteiger der Mädelegabel gegolten; die noch zu Lebzeiten Zörs 1548 von Stützle verfaßte Monographie von Oberstdorf enthält einen Bericht über eine 1811 ausgeführte Bergfahrt des unternehmenden Landgerichtsphysikus‚ der zu jener irrtümlichen Auffassung Anlaß gegeben hat. Spiehler hat einwandfrei nachgewiesen, daß nicht der Gipfel, sondern nur der Ferner am Fuße der Felsen erreicht wurde. Vielleicht nimmt auf diese Fahrt die: Stelle in „Südbayerns Oberfläche“ von Hauptmann J. F. Weiß Bezug: „Wer hier Glätscher besuchen wollte. der fände sie ebenfalls auf der Mädelegabel“. Der Gipfel selbst wurde zum erstenmal wohl anläßlich der Triangulierung des Allgäus 1818-1819 betreten. Die Begehung der Scharten sowie des Ferners ‚war vorher schon den Einheimischen wohl vertraut. Der erste, näher bekannte einheimische Ersteiger des Bergs, Baptist Schraudolph, wurde 1856 durch eine auf dem Gipfel emporragende Stange veranlaßt, den Kulminationspunkt zu ersteigen. Spiehler nimmt an, daß dieses Signal nicht von der Triangulierung, sondern von den Arbeiten der Grenzkommission 1835 herrührte, so daß auch damals die Mädelegabel erstiegen worden wäre. Leo Dorns Behauptung, daß er als 15-16jähriger Bursche, also 1850 oder 1851, von seiner Heimat Oberstdorf aus die Mädelegabel bestiegen habe, hat bei der außerordentlichen Zuverlässigkeit der örtlichen und zeitlichen Angaben, die die sonstigen Erinnerungen dieses kühnen Bergsteigers auszeichnen, berechtigten Anspruch, als richtig betrachtet zu werden. Die Aufklärung über eine Ersteigung durch Forstmeister Goldmaier, Förster Schwarzkopf, die Jagdgehilfen Brandner und Schaafhittl wird kaum mehr möglich sein, da sämtliche Beteiligten tot sind. Die Besteigung erfolgte 1851 von Einödsbach aus, der Abstieg nach Spielmannsau um die Südseite des Kratzers. Die Erzählung des Försters Schwarzkopf, welche Spiehler wiedergibt, ist sachlich so richtig. daß wohl auch diese Besteigung kaum angezweifelt werden darf; auch der einzige strittige Punkt, daß auf dem Gipfel keine Stange und kein Zeichen menschlicher Anwesenheit vorgefunden wurde, läßt sich leicht dahin erklären, daß die von Schraudolph vorgefundene Stange in der Zwischenzeit auf irgend eine Weise verschwunden war. Die Entscheidung aber, welcher der beiden vorgenannten Partien die Priorität zuzuschreiben ist, wird kaum mehr getroffen werden können. Zweifellos hat Professor Sendtner als erster Tourist 1852 die Mädelegabel betreten; nach den Angaben von Groß ging er von der Obermädelealpe aus „an den nördlichen Geröllhalden des Kratzers, hart am Rande der Schwarzen Milz, auch Hohentrettach genannt, hinauf, weiter oben durch die ungeheuren Felstrümmer, die vom Gipfel des Kratzers sich ablösten, um hinter diesen etliche lose Geschiebe und Lawinenreste zu überspringen, um auf das feste Gestein des Querjochs zu gelangen, welches den Kratzer mit dem Mädelestock verbindet und die Wasserscheide ist zwischen Iller und Lech…“ Ein Begleiter Sendtners auf dieser Bergfahrt ist nicht genannt. Ein schwer lösbarer Widerspruch zu dieser Darstellung ist eine andere Angabe des Groß, nach der mit Vinzenz Schraudolphs (von Einödsbach) Hilfe »Sendtner der stolzen Jungfrau den Strohkranz auf das Haupt gedrückt“. Die richtige Lösung deutet Spiehler an, indem er aus Sendtners Barometermessungen den Schluß zieht, daß der berühmte Botaniker zweimal die Mädelegabel erstieg. Mit Recht wird Sendtner deshalb wohl auch die erste touristische Ersteigung von Einödsbach zugesprochen werden; welche von beiden Ersteigungen aber zeitlich vorausging, wird nicht zu entscheiden sein.

Am 24. August 1834 vermieden Groß und Dobel jun. in Begleitung einer größeren, auch aus Damen bestehenden Gesellschaft auf dem Rückwege von der Mädelegabel den für ängstliche Gemüter nicht eben angenehmen Weg auf der Nordseite des Kratzers, indem sie den Kratzer auf der Südseite umgingen. Groß hielt diesen Weg für neu; nach den obigen Angaben Schwarzkopfs ist seine Auffassung unrichtig; doch ist die Wiederentdeckung insoferne wichtig, als künftighin diese Route Regel für jene wurde, die von der Spielmannsau aus die Mädelegabel bestiegen. Die Einödsbacher Route deckt sich nach der etwas wagen Beschreibung von Groß mit der jetztüblichen. Merkwürdig wie die widerspruchsvollen Angaben über die Ersteigungen des Bergs sind die Berichte über die ersten Führer auf die Mädelegabel; nicht weniger als drei Persönlichkeiten teilen sich in die Ehren: Groß nennt Vinzenz Schraudolph als den „erfahrensten und zuverlässigsten Führer für den Besteiger des Mädeli von Einödsbach aus“. Spiehler nennt den einarmigen Hafner Hipp von Oberstdorf. der der Dobelschen Ersteigung 1854 teilgenommen hatte, um den Aufstieg kennen zu lernen, als Hauptführer; er führte 1867 mit A. v. Ruthner seine 78. Besteigung aus. Edmund Probst gibt an, daß der erste Mädelegabelführer Braeck einarmig gewesen sei: mit ihm hat Probst 1866 die Mädelegabel bestiegen. Man darf wohl annehmen, daß Baptist Schraudolph der erste einheimische Ersteiger der Mädelegabel, den einen oder anderen Fremden zu unserem Berg geleitet hat. Über alle für die Ersteigungsgeschichte nicht allzu belangreichen Schwierigkeiten hilft die Schlußfolgerung hinweg. daß in den fünfziger Jahren bereits vier gleichwertige Führer für die Mädelegabel zur Verfügung standen. Unter ihnen bekam Baptist Schraudolph den größten Ruf; von seiner Autorisierung (1875) bis zum Jahre 1897 hat er 416 Partien, im Ganzen gegen 500 auf den Berg geführt.

Alle genannten Wege sind Zugangslinien zum Gipfelmassiv des Bergs und vereinigen sich am Fuße der Felsen; dort wird nach Überschreitung der Randkluft des Ferners, die je nach ihrer Beschaffenheit ängstlichen Gemütern eitrige unangenehme Augenblicke bereitet, über einige seichte Rinnen, stolz „Kamin“ genannt, der Ostgrat und in kurzer Kletterei die Spitze erreicht.

Waltenberger Haus Die Zugangslinien auszubauen, war eine Hauptaufgabe der jungen Sektionen, die im Allgäu sich an den D. u. Ö. Alpenverein angliederten; schon 1875 wurde die erste Unterkunftshütte an einem mächtigen Felsblock hoch oben im Bockkar von der Sektion Allgäu-lmmenstadt erbaut und nach deren verdienstvollem ersten Vorstand „Waltenberger Haus“ genannt.

Kemptner Hütte Eigentümlich berührt in unserer Zeit der Schutzhüttenpaläste der bescheidene Preis von 2420 Mark; die Lage war nach vielen Richtungen hin nicht günstig, so daß bei einem notwendigen Umbau 1884 gerne der jetzige Standort gewählt wurde. An anderer Stelle wurde bereits erwähnt, wie in einer vernünftigen Anpassung an die fortschreitende Entwicklung die Sektion Allgäu-Immenstadt ihr Heim ebenso zweckmäßig ausgestaltet hat wie auf der andern Seite des Bergs die Schwestersektion Allgäu-Kempten die Kemptner Hütte immer mehr berechtigten Forderungen anpaßte. Das letztgenannte Unterkunftshaus war verhältnismäßig spät erst Jahre 1891, eröffnet und damit auch dem Anstieg von der Spielmannsau der nötige Stützpunkt geschaffen worden.

Eine weitere Route hat mit den vorgenannten vieles insoferne gemeinsam, als sie ebenfalls nur eine neue Zugangslinie zum Fuße des Gipfelmassivs darstellt — die Route durch die Wilden Gräben; sie bewegt sich zum größten Teile auf den Lawinenresten der Trettachrinne; mit den wechselnden Schneeverhältnissen wechselt auch die Schwierigkeit und Dauer ihrer Begehung. In ungefähr gleicher Höhe mit der tiefsten Einschartung der Schwarzen Milz wird die im Sommer im oberen Teile meist von Eis erfüllte Rinne verlassen und über steile Lettenhalden und Schneerinnen nach zur erwähnten Einsattelung gequert. Empfehlenswerter, aber nur für durchaus sichere Gänger, ist in günstigen Sommern der Abstieg auf diesem Wege, der die kürzeste Verbindung mit Spielmannsau herstellt. Baptist Schraudolph hat jedenfalls wenigstens den obersten Teil benützt, lange ehe Touristen an dessen Begehung dachten. Nach seiner Erzählung stieg er wiederholt auf dem beschriebenen Wege in die Trettachrinne ab, verließ sie aber unter den Wänden der Trettachspitze und querte auf den unter den Felsabstürzen sich hinziehenden Bändern der „Hohen Trettach“ zum Spätengundkopf und Einödsberg; praktische Rücksichten veranlaßten Schraudolph zur häufigen Benützung dieser Route, da sie für ihn bei günstigen Schneeverhältnissen die kürzeste Verbindung mit Einödsbach herstellte. 1868 beging Waltenberger zum erstenmal die ganze Rinne im Aufstieg von Spielmannsau. 1880 führte Schraudolph Otto Heiß und Kösel denselben Weg im Abstieg; Kösel und Lutz führten später die oben erwähnte Variante Schraudolphs aus; die nicht allzu zahlreichen späteren Begehungen geben zu weiteren Bemerkungen keinen Anlaß!

Mädelegabel und Trettachspitze von Osten Der Nordgrat: Er wurde von Kösel im August 1834 zum erstenmal betreten. Wie aus den etwas farblosen Daten A. Spiehlers hervorgeht, stieg Kösel von Einödsbach direkt über die Hänge des Laubschrofens zum Mädelegabelkar, von hier über das Kar in die von der Mädelegabel direkt abstürzenden Felsen, hielt sich links gegen die Trettachspitze und erreichte den Grat zwischen dieser und der Mädelegabel. Zwei Angaben bedürfen hierbei der Richtigstellung. Die Zeit von 2 3/4 Stunden für den ganzen Anstieg ist zu niedrig gegriffen, selbst wenn Kösel von allen lrrgängen der Mittelregion verschont geblieben ist und auch in den ziemlich komplizierten Wänden der Mädelegabel den besten Weg zu finden das Glück gehabt hat. Die Mitteilung, daß Kösel „keine besonderen Schwierigkeiten“ fand, wurde von den nachfolgenden Partien nicht bestätigt. Kranzfelder und Stritzl führten im Juli 1892 die zweite, M. Zimmer und F. Rosenplänter am 2o. September 1892 die dritte Begehung aus. Frau von Chelminski gelang mit Führer Zobel jun. der erste Abstieg am 11.Juni 1893; starke Schneebedeckung und Vereisung —— eine Folge der frühen Jahreszeit — gestalteten die Unternehmung zu einer höchst abenteuerlichen!

Am 20. August desselben lahrs wurde die vierte Ersteigung von Ernst u. ]osef Enzensperger und Karl Neumann unternonnnen. Von Einödsbach aus wurde direkt zum trümmererfüllten Mädelegabelkar emporgestiegen. Das große, vom nördlichen Ende der breiten Trettachscharte durch die Westwand herabziehende Couloir, welches unten in senkrechten Wänden abbricht, wurde hart über dem Absturz mit Quergang von links nach rechts auf breitem Band erreicht, im ersten Drittel die Sohle der Schlucht verfolgt, dann nach rechts auf die wild zerrissene Begrenzungsrippe geklettert und diese schwierig bis zur Scharte (1-1/2 Stunden von der Mitte des Kars) verfolgt. Der Nordgrat selbst bot keine wesentlichen Schwierigkeiten mehr: anfänglich in die Westseite ausweichend, dann den geröllbedeckten Grat verfolgend, gelangte die Partie schließlich auf der Ostflanke auf den Gipfel (3/4 - 1 Stunde --- Die Felsszenerie ist vielleicht die eindrucksvollste und großartigste im Bereiche der Gruppe, die Kletterei abwechslungsreich und genußvoll. Es ist deshalb bedauerlich, daß diese Tour bisher verhältnismäßig wenig Freunde gefunden hat. Von den Allgäuer Führern hat, soweit bekannt geworden, außer Zobel nur Franz Schraudolph die Ersteigung ausgeführt, doch sind unter ihnen mehrere vorhanden, die nur der Anregung eines Touristen bedürfen, um den interessanten Weg zugehen. Von späteren Partien wäre die der Herren Steinbach und Zink zu nennen; die Sohle der Schlucht wurde bis zur Scharte beibehalten, was nur unter erheblichen Schwierigkeiten gelang.

Trettachspitze von der Rotgundspitze aus Der Südwestgrat: Bapt. Schraudolph hat in den fünfziger Jahren einen Touristen auf diesem Weg zur Mädelegabel geführt. Die Ersteigung war so wenig bekannt geworden, daß Frau v. Chelminski und J. Enzenspergers am 8. Oktober 1893 glaubten, zum ersten Male den Gipfel auf diesem Wege gewonnen zu haben. Die Begehungen dieses höchst interessanten Grats, der nur an einer Stelle kurz nach seinem Aufschwung von der Scharte zwischen der Hochfrottspitze und Mädelegabel einen schwierigen und exponierten Quergang von der Ostabdachung auf die Westseite erfordert, sind erfreulicherweise in den letzten Jahren sowohl im Aufstieg wie im Abstieg häufiger geworden; man erreicht dabei meist nicht wie bei den ersten Partien die Scharte zwischen den beiden Gipfeln vom Ferner aus, dessen überdeckte Randkluft oft Vorsicht erheischt, sondern verbindet damit zugleich die Überschreitung der Hochfrottspitze. Auch in Führerkreisen scheint sich diese Route zunehmender Beliebtheit zu erfreuen; Franz Braxmeier hat laut Ausweis seines Führerbuchs seit 1898 einer Reihe von Touristen den schönen und nicht allzu schwierigen Genuß dieser Kletterei verschafft.

Wintertouren: Die winterliche Ersteigung der Mädelegabel hat ihre eigene Geschichte; sie spiegelt sich weniger in der Anzahl der gelungenen Besteigungen wieder als in der weitaus größeren Anzahl von Versuchen, die unbekannt geblieben sind. Unter günstigen Schneeverhältnissen gestaltet sich die Tour fast einfacher und vor allem müheloser wie im Sommer; nur das schmale Band des Wändle, das meistens vereist und von Schnee verweht ist, bietet einige Schwierigkeiten; zur Bockkarscharte zieht ein ununterbrochenes Schneefeld; die Madelegabel selbst trägt einen Schneemantel bis an den Grat, dessen Wächtenbildungen bei einiger Vorsicht leicht zu vermeiden sind. Wie ändern sich aber die Verhältnisse, wenn weicher Schnee schon auf der wenig geneigten Fläche des Bacherlochs nur mühsam Schritt für Schritt gewinnen läßt, wenn die überschneiten Trümmer der Lawinen Hindernis an Hindernis auftürmen! Die steilen Hänge zum Waltenberger Haus zermürben durch ihren einförmigen, aber um so intensiveren Widerstand die letzte Kraft und der ständige Anblick des scheinbar so nahen Obdachs, das trotz aller Anstrengung nicht näher zu kommen scheint, lähmt die Energie, statt sie zu erfrischen. Manche froh geplante und kraftvoll begonnene Winterfahrt fand hier beim schönsten Sonnenschein ihr frühzeitiges Ende, manche in den endlosen Schneemassen des Bockkars. Mancher kühne Bergsteiger ward schon im Angesichts des erhofften Gipfels durch das wütende Schneetreiben, den ärgsten Feind der Wintertouristen, zum Rückzug getrieben; manchem mags auch gegangen sein, wie mir's mit meinem Bruder als blutjungem Bürschlein erging. In abenteuerlichem Nachtanstieg hatten wir mit einigen Kemptner Herren über den Sperrbachtobel endlich gegen Mittag den Fuß des Gipfels erreicht. Die Sonne brannte heiß; wir waren alle herzlich müde; doch junges Blut hängt zäh an Absichten fest, selbst wenn die Vernunft sie widerrät. Wir beide verbanden uns durchs Seil und stiegen den grell beschienenen Hang empor, der schon bedenklich von einigen Querrissen durchzogen war. Einen wagten wir noch zu überschreiten; als dann beim nächsten nahe am Gipfelgrat ein eigentümliches Knirschen den ganzen Berg zu durchzittern schien, war's um unsere Schneid geschehen.

Wenige Minuten später holten wir unsere vorausgeeilten Gefährten wieder ein; wir blickten lange zurück; doch zu unserem Leidwesen gab der Berg der moralischen Unanfechtbarkeit unseres Entschlusses nicht die erhoffte äußerliche Bestätigung. Meinem jugendlichen Ehrgeiz gab noch lange später die unnütze Frage viel zu schaffen, ob wir nicht doch vielleicht hinaufgekommen waren. —

Ernst und eindrucksvoll gestaltet sich die Ersteigung im Frühjahr; denn stundenlang geht die Wanderung in der mächtigen Lawinenschlucht des Sperrbachtobels oder des Bacherlochs; wohl ist es möglich, die Gefahr auf ein Mininium zu reduzieren, indem man zur Nachtzeit den langen Aufstieg durch die bedrohten Teile unternimmt; ein rascher Abstieg mag dann auch am Tage ohne allzugroße Fährlichkeit gewagt werden. Doch wird keiner sich des beklemmenden Gefühls einer Mausefalle erwehren können, wenn er die Zusammenschnürung betritt, die jeder der beiden Tobel in der Mitte aufweist. Wie vielen Partien ist dieser gefährlichste Teil der Wanderung unter mißlichen Verhältnissen geglückt!

An einer Stelle und zu einer Zeit, wo jede Gefahr ausgeschlossen erscheint, im oberen Bockkar, forderte der Berg zwei junge, blühende Leben als Opfer. Vier Münchener Bergsteiger hatten am 8. Dezember 1902 im Abstieg von der Mädelegabel die Bockkarscharte erreicht; die Herren Gebhard und Knößl schickten sich eben an, die nicht allzu steile Halde herabzusteigen. Mit jener Plötzlichkeit, die Staublawinen so verhängnisvoll macht, geriet der ganze Hang von Pulverschnee in Bewegung und fuhr mit den Unglücklichen vor den Augen der Kameraden zur Tiefe. Als die letzten Schneeschleier verweht waren, waren zugleich zwei hoffnungsvolle Männer aus dem Buche des Lebens gestrichen.

Den Herren Heiß und Dr. Fürst aus Kempten gelang die erste bekannte winterliche Ersteigung des Bergs am 29. Januar 1882; Wundt wiederholte die Tour unter Schraudolphs Führung am 9. April 1887, Th. Neumayer am 2. Januar 1889. Im letzten Jahrzehnt dürfte wohl kein Jahr verstrichen sein, ohne daß winterliche Ersteiger die Mädelegabel betreten hätten.
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Hochfrottspitze II. Die Hochfrottspitze (2.648,8 m)

An Eindruck der Formen steht sie sicherlich dem vielbestichten Nachbarn nicht nach; da sie zugleich der Kulminationspunkt der Gruppe ist, kann die langjährige stiefmütterliche Behandlung des schönen Bergs nur in der Törin (weibliche Form zu Tor Quelle: www.duden.de) Mode ihre Erklärung finden, die im Alpinismus wohl keine geringere Rolle spielt wie im gewöhnlichen Leben. Auch Spiehler widmet der Geschichte dieses Gipfels notgedrungen nur wenige Zeilen. Nicht weniger als sechs verschiedene Routen führen heute auf den Berg, von denen vier Anspruch auf volle Selbständigkeit erheben.

I. Der gewöhnliche Weg durch die Ostwand. Der Nordwestgrat. Die Südwand:
Die drei Wege sind auf verhältnismäßig engem Raume zusammengedrängt. Meistens wird über den Ferner, der hier infolge verdeckter Spalten Vorsicht erheischt, der flachen Rinne zugestrebt, die zur Scharte zwischen den zwei Gipfeln emporzieht; beide werden von hier aus leicht gewonnen. Die Begehung der häufig noch von Schneeresten bedeckten und wasserüberronnenen Platten bietet mittlere Schwierigkeiten. Der Nordwestgrat wird zumeist in Verbindung mit dem Südwestgrat der Mädelegabel gewählt; man klettert teils neben, teils auf dem Grat; das Urteil über die Schwierigkeit der Tour schwankt, je nachdem die gangbaren Stellen richtig getroffen werden. H. von Barth führte im Jahre 1869 die erste Ersteigung des Bergs aus; die Route fällt im allgemeinen mit der über den Nordgrat zusammen. Ihm folgte 1870 Waltenberger. Am 23.Juli 1888 beging Fambach zum erstenmal die Südwand. „Abweichend von der Barthschen Route kletterte ich durch eine sehr steile Felsrinne, welche vom Ferner durch die Mitte der Südwand geradlinig zum Gipfel emporführte. Die Besteigung bietet, abgesehen von der bedeutenden Steilheit der Südwand, keine besonderen Schwierigkeiten, ist jedoch durchweg Kletterpartie“. Eine weitere Begehung dieser Route ist nicht bekanntgeworden. Modlmayrerstieg am 3. September 1890 den südwestlichen der beiden Gipfel „auf einer Linie links von der Barthschen Router“; sie dürfte wohl mit der jetzt gebräuchlichen Anstiegslinie zusammenfallen.

Der Südwestgrat:
Er stellt den weitaus kürzesten Zugang zum Gipfel dar und bietet kaum mehr Schwierigkeiten als die gewöhnlichen Routen. Um so verwunderlicher ist, daß erst am 16. September 1894 E. u. J. Enzensperger und Karl Neumann die erste Begehung ausführten. Eine schwierige Stelle in der Mitte des Grats wurde rasch überwunden; 26 Minuten nach Verlassen der Bockkarscharte war der erste, nach einigen Minuten der zweite Gipfel erreicht; in weiteren 53 Minuten wurde der Gratübergang zur Mädelegabel ausgeführt. Die Tour hat inzwischen viele Freunde gefunden; auch Führer Braxmaier hat sie seit demjahre 1898 wiederholt mit Touristen begangen.

Westlicher und östlicher Berg der guten Hoffnung. Westgrat der Hochfrottspitze:
Dieser langgezogene Rücken, der an seinem westlichen Ende die beiden unbedeutenden Erhebungen trägt, wurde am 7. Oktober 1896 zum erstenmal von E. Christa, E. Enzensperger und A. Weixler betreten. Die Partie stieg vom Waltenberger Haus den gewöhnlichen Mädelegabelweg so weit empor, bis ein unter dem östlichen Berg der guten Hoffnung nach links zum westlichen streichendes Band sichtbar wurde; in der zur Scharte zwischen Hochfrottspitze und den beiden Erhebungen ziehenden, brüchigen Rinne wurde der Anfang des Bandes erreicht und auf demselben unschwierig die breite Klippe gewonnen; diese kürzeste Tour vom Waltenberger Haus aus ist empfehlenswert wegen der grandiosen Nahsicht ins Bacherloch und in das Mädelegabelkar. Nach der Rückkehr zur Rinne wurde diese aufwärts zur Scharte verfolgt und die zweite Erhebung über den kurzen, aber schneidigen Ostgrat in schwieriger Kletterei erreicht. Die weitere Begehung des relativ breiten Grats ist technisch einförmig, aber infolge der stets fesselnden Szenerie von großem Reiz. Kurz oberhalb der Einmündung der Schneerinne, welche die Westwflanke des Bergs durchreißt, mußte ein Abbruch des Grats nach links auf schmalen Bändern umgangen werden; die Route mündet auf die Scharte zwischen den beiden Gipfeln der Hochfrottspitze. A. und G. Schulze und H. Wein vollführten am 29. Juli 1900 einen direkten Gratübergang vom östlichen zum westlichen Berg der guten Hoffnung. Der Abstieg erfolgte nahe der steilen Gratkante sehr schwierig und ausgesetzt).

Die Westwand:
Schon weit draußen im lllertal lenkt eine weißschimmernde Schneerinne den Blick auf sich, die von einer Schulter nahe am Gipfelbau der Hochfrottspitze ihren Anfang nimmt; von Einödsbach aus ist die in der Westwand eingebettete Rinne nur wenig sichtbar, um so mehr nimmt die breite Wandfiucht selbst das Interesse gefangen. Lange Zeit galt die Durchkletterung dieser Wand als eines der schönsten Probleme in der Mädelegabelgruppe; dessen Durchführung gelang E. Enzensperger., E. Heimhuber, Dr. Ch. Müller und Th. Otto am 26. September 1893.
Sie stiegen vom Waltenberger Haus auf dem bekannten Wege ins Mädelegabelkar und wandten sich der Rinne zu, die im Hintergrunde des Karbodens sich zur Scharte zwischen Hochfrottspitze und ötlichem Berg der guten Hoffnung emporzieht; dieselbe wurde aber nicht bis zu ihrem Ende verfolgt, sondern ungefähr in ihrer Mitte verlassen und nach links in einer mittelschweren Plattenrinne emporgeklettert, die in einem ungangbaren, weit überwölbten Überhang endet: wenige Meter vor dem Abschluss wurde die linke (im Aufstieg) Begrenzungswand der Rinne über einen sehr schweren Überhang erklettert und nach wenigen Minuten die breite Geröllterrasse erreicht, die den Eingang zur erwähnten Schneerinne vermittelt. Der späten Jahreszeit entsprechend war sie im unteren Teile aper, in den oberen zwei Dritteln von grauem Eis erfüllt. Die Partie arbeitete sich in der brüchigen Verschneidung empor, welche die (im Anstieg) linke, überhängende Begrenzungswand mit dem Boden der Rinne bildet, querte an geeigneter Stelle die Eisrinne und stieg in den schwierigen Platten, nahe am rechten Rande zum Westgrat der Hochfrottspitze, der am letzten Gipfelabbruch erreicht wurde.

Die abwechslungsreiche Tour gehört zu den landschaftlich eindruckvollsten der Gruppe und bildet den schönsten Zugang zur Hochfrottspitze; mit Ausnahme des einen Überhangs, der wahrscheinlich umgangen werden kann, sind die Schwierigkeiten ungefähr wie die der gewöhnlichen Anstiege auf die Trettachspitze; die Schneerinne selbst dürfte zu früherer Jahreszeit vollkommen begangen werden können. Prachtvoll ist der Blick in die Westwände der Mädelegabel und Trettachspitze. Die schöne Kletterei verdient mehr Freunde, als sie bisher gefunden hat; außer den Ersteigungen durch Fräulein Gusti Schneider und E. Heimhuber 1899 und Dempf und E. Heimhuber 1902 sind keine weiteren bekannt geworden.

Die erste Winterersteigung der Hochfrottspitze wurde am 10. April 1887 von Wundt mit Bapt. Schraudolph über die Ostwand ausgeführt; denselben Aufstieg wählten am 27. Dezember 1897 E. und J. Enzensperger und Dr. M. Madlener; weicher, tiefer Schnee machte die Überwindung der Plattentinne sehr an strengend und bei der bedeutenden Steilheit lawinengefährlich; der Abstieg wurde über den nahezu aperen Südgrat genommen.

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III. Die Trettachspitze (2.595,4 m)
Trettachspitze von Norden Wenn eine Spitze unersteigbar ist, so muß es diese sein! — so möchte wohl ein jeder ausrufen, der vom Mädelejoch der Südseite des Kratzers entlang dem Gipfel der Mädelegabel zuwandert und auf dem Höhenrande der Schwarzen Milz urplötzlich des Obelisken ansichtig wird, der als Vorposten der zentralen Gebirgsmasse auf dem Scheidekamme zwischen Trettach und Einödsbach thront. Mag er als gewiegterer Kenner der Berge noch Zweifel hegen an der reellen Wahrheit dieser Gipfelgestalt, mag er sie sich betrachten von Süden, Westen oder Norden — immer der gleiche, abgerissene, isolierte, schlanke Bau; bald Sättle und bald schiefes Horn, einem aufgereckten Riesenfinger gleich gen Himmel weisend; —— im günstigsten Falle ein aufgekrünnnter, zuckerhutartiger Kegel. Herausfordernd einen jeden, in dessen Adern etwas Gemsenblut rollt, von allen Seiten drohend, unangreifbar ihn zurückweisend —— so rechtfertigt die Trettachspitze, wo immer man sie beschauen mag, jenes erstgefällte Urteil: Wenn eine Spitze unbesteigbar ist, so muß es diese sein. Mit diesen schwungvollen Worten leitet H. v. Barth die berühmte Schilderung seiner ersten Ersteigung der Trettachspitze ein; und die ganze Beschreibung spiegelt den tiefen Eindruck wieder, welchen der kühnste Felsengipfel des Allgäus auf den Bezwinger so mancher kühnen Zinne machte. Heute ist der Berg von allen Seiten erstiegen, sämtliche Stellwände, die selbst einem Barth unnahbar erschienen, sind durchklettert — ein beredtes Zeichen für die Entwicklung des Alpinismus. Der Ruf, der schwerste Felsberg des Allgäus zu sein, ist der "Trettachspitze erhalten geblieben; manche ihrer Routen stellt sich getrost den schweren Felstouren berühmter Gebiete an die Seite. Reizroll wie der Berg selbst ist die Geschichte seiner Erschließung.

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Glossar:
Online-Veröffentlichung der Abhandlung "Die Gruppe der Mädelegabel" aus dem gleichnamigen Bergführer von Ernst Enzensperger aus dem Jahr 1909 im Rahmen einer gemeinfreien Nutzung nach dem Urheberrecht. Eine Veröffentlich erfolgte bereits 1907 in der Zeitschrift des DÖAV.
Rechtschreibung, Zeichensetzung und Satzbau sind im originalen Zustand belassen worden. Als zusätzliches gestalterisches Mittel wurden aktuelle und teilweise auch historische Schwarz-Weiß-Aufnahmen in die ursprünglich unbebilderte Erzählung eingebaut. Die Aufnahmen sind zur Auflockerung des Textes gedacht und versuchen einen regionalen Bezug zur Erzählung herzustellen. Mit Ausnahme der nach Original-Vorlagen des Verfassers lithographirten Skizzen der Höfats handelt es sich hierbei um keine überlieferten echten Bild- u. Zeitdokumente aus jener Zeit.
Zur besseren Einordnung abweichender geographischer Bezeichnungen und zum besseren Verständnis einiger von Barth benutzter und im heutigen Sprachgebrauch weithin unbekannter Ausdrücke wurden aktuelle "Bergnamen" ergänzt und gesonderte Fußnoten angebracht (Fußnoten werden auch beim Überfahren mit der Maus angezeigt) bzw. am Ende der Erzählung in einem Glossar zusammengefasst.

Zusätzlicher Hinweis: Die Aufarbeitung bzw. Bereitstellung dieses Dokumentes ist im Sinne der Verfügbarmachung eines alpinhistorischen literarischen Werkes zu verstehen. Die Tourenbeschreibung ersetzt keinesfalls aktuelle Bergführerliteratur.
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Glossar:
[1] kulminieren: kulminieren (franz. culminer): den Höhepunkt erreichen, den Gipfelpunkt erreichen (Quelle: duden.de) -->zurück
[2] Arbanten: Auf der Höhe von Einödsbach verschwindet der Rappenalpbach in eine Schlucht, den sogenannten Arbanten, und danach heißt er Stillach (Quelle: http://www.oberstdorf-online.info) -->zurück


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Überschreitung der Höfats

Zwei Überschreitungen der Höfats
von und mit Josef Enzensperger (im September 1894) veröffentlicht im Werk "Ein Bergsteigerleben – Alpine Aufsätze und Vorträge 1924"


Höfatsspitze mit Oytal um ca. 1960 Mit vollem Rechte hat einst ein berühmter Alpinist die Behauptung aufgestellt: nur derjenige kenne einen Berg, der ihn überschritten habe. Wenn von irgend einem Gipfel, so gilt dies von der Höfats; denn dem Turisten, der sich mit dem gewöhnlichen Wege begnügt, bleiben ihre charakteristischen Eigenschaften, die gewaltigen Schluchten der Nord- und Ostseite und die scharfen Gipfelgrate selbst, verschlossen. Um diese kennen zu lernen, ist notwendig, daß man entweder den Nordgrat begehe, oder den Aufstieg aus dem Roten Loch wähle und außerdem noch die Überschreitung der vier Gipfel durchführe. Einen dasselbe Thema behandelnden Vortrag, den ich vor einigen Jahren in einem alpinen Verein hielt, hatte ich mit den Worten geschlossen: "Vielleicht die schönste Tur, die im Gebiete der Höfats existiert, die jedoch noch der Ausführung harrt, wird die Ersteigung des Westgipfels über den Nordgrat und daran schließend der Gratübergang zum Ostgipfel mit Abstieg zum Älpele sein. Sie läßt sich von Oberstdorf hin und zurück bei raschem Gehen in acht Stunden Marschzeit durchführen, erfordert allerdings einen ruhigen und sicheren Alpinisten, gibt aber wie keine andere Route einen genauen Einblick in die Formation und das innerste Wesen dieses außergewöhnlich interessanten Berges. In unserer dem Alpinismus so günstigen Zeit wird die Ausführung nicht allzu lange auf sich warten lassen." Mir selbst was es ein Jahr später vergönnt, die empfohlene Kombination von drei Wegen zu erproben. Aus den oben berührten Gründen möchte ich sie etwas näher schildern, da sie nämlich die interessanteste aller Kombinationen ist, die sich in so reicher Auswahl an der Höfats bieten; es leitet mich außerdem noch die sichere Hoffnung, daß es nur eine solchen Schilderung bedarf, um manchen tüchtigen Turisten von der Benützung des normalen, wenig instruktiven [1]und fast einförmigen Weges abzuhalten und ihn so die Höfats in ihrer ganzen Eigenart kennen lernen zu lassen. —
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Umgebungskarte von Enzensperger im DÖAV-Jahrbuch v. 1896 Es war am 13. September 1894, kurz vor sechs Uhr morgens, als mein Bruder Ernst, dessen erste Höfatstur es war, und ich die im Dietersbachtale, eine Viertelstunde hinter Gerstruben gelegene Gerstrubener Alm verließen. Unser nächstes Ziel war das untere Ende des Nordgrates. Der Weg, den ich zu diesem Zwecke im vorhergehenden Jahre mit Frau Luise v. Chelminski gewählt hatte, war mir noch in allzu lebhafter Erinnerung, als daß ich freiwillig die damit verbundene Mühsal nochmals auf mich genommen hätte. Wir folgten dem freundlichen Rate der Sennen, die uns die relativ bequemste Route angaben. Wenige Minuten hinter der Alm bricht mit mächtigem Geröllstrom der innere Höfatstobel in das offene Tal hinaus, dessen weite, flache Sohle in seltsamen Kontraste zu den beiderseits in unvermittelter Jähe [2]daraus emporsteigenden Graslahnen [3]steht. In dem Grashange an seiner östlichen Seite fällt hundert Meter über dem Talboden ein einzeln stehender großer Ahornbaum ins Auge; bei ihm beginnt ein Steiglein, das im Zickzack ungemein rasch in die Höhe führt, später den Tobel quer übersetzt und uns bis auf eine halbe Stunde unter den Hauptkamm emporbringt. Es ist ein typisches Beispiel jener spezifischen Allgäuer Heuerpfade, die man kaum anderswo trifft: oft nur handbreit ziehen sie sich an den schroffen Lahnen hin, auf schmalen, vereinzelten Tritten durch Felswände und Tobel hindurch, und wirklich bewundernswert ist die Sicherheit, mit der auf ihnen mancher Eingeborene seine schwere Heulast, die bis zwei Zentner Gewicht erreicht, auf Kopf und Schultern zu Tale trägt. Der Weg selbst gewährt stets einen schönen Rückblick auf die gegenüber in steilen Fluchten niederschießenden begrünten Flanken der Kegelköpfe; allmählich strecken darüber die wilden Dolomitzacken der Krottenköpfe ihre Häupter empor und winken die stolzen Gipfel der Mädelegabel-Gruppe, voran der überkühne Zahn der Trettachspitze; jenseit des Tobels gleitet der Blick scheu zur Nordwestwand der Höfats, deren pralle Platten trotz ihres senkrechten Abfalles an mancher Stelle mit Grasschöpfen gesprenkelt sind. Das Steiglein endigt kurz unter dem Kluppenkopfe, einem kleinen Seitengrate, der den Tobel in seinem obersten, flachen Teile auf der westlichen Seite begrenzt. Vom Tale gesehen ein Felszacken von verwegenster Gestalt, läßt er das Sprichwort zur Wahrheit werden: "Es ist nicht alles Gold, was glänzt." Man ist geradezu enttäuscht, wenn man sieht, daß auf seiner Rückseite ein ganz unschuldiger Graskamm zum Hauptgrat zieht.
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Wir sind so sündhaft bequem, schon hier die Steigeisen anzulegen. Es zählt eben nicht zu den größten irdischen Freuden, auf glatter, stufenloser Rasenfläche sich krampfhaft mit dem Geradehalten des Fußgelenkes abzumühen, und wer dieses Vergnügen einmal ein paar Stunden lang durchgekostet hat, der bequemt sich, auch wenn er die Eisen sonst verabscheut, sehr gerne dazu, die Mißachteten zu benützen. Viel mehr noch als bei den sogenannten gefährlichen Stellen, die wegen ihrer Steilheit bedenklich sind, aber eben deshalb keine Möglichkeit zur Bildung vollkommen zusammenhängenden Rasens, sondern nur einzelner Polster geben und daher meistens Stufung zeigen, empfiehlt sich in diesem leichten Terrain für den, der seine Füße schonen will, das Anlegen der Eisen. Man glaubt nicht, wie viel Zeit und vor allem wie viel Mühe man sich dadurch erspart. Ohne Anstrengung werden wir durch sie auch auf den Rauhenhalsgrat emporgetragen, wo wir sieben Viertelstunden nach unserem Aufbruch von der Alm gerade zur rechten Zeit ankommen, um ein Rudel von fünfzig Gemsen in greifbarer Nähe über die Felsmauern ins Oytal jagen zu sehen. Wie die stahlhufigen Tiere sprangen, stürzten, mitten im Sturze wieder in die Höhe schnellten und so fort, bis die sausende Jagd im Tobel verschwand und nur das noch lange nachhaltende Dröhnen und Poltern der Steine Kunde von ihrer Flucht gab! Mit einem gewissen Neidgefühle sahen wir ihren tollen Sätze zu. Nun, wir haben eigentlich keinen Grund zum Neide. So schnell geht es bei uns freilich nicht, aber wir trösten uns mit dem Gedanken, daß es dafür eine Unzahl Gipfel gibt, die wohl von kühnen Männern bezwungen werden, der Gemse aber unzugänglich sind. Der Gratabbruch, auf den wir jetzt zusteuern, ist gleich ein Beispiel dafür. Die vorhergehende Woche, die den größten Teil der Ostalpen mit erklecklichen Neuschneemassen bedacht hatte, war auch hier nicht spurlos vorübergegangen; noch hingen mächtige, absturzdrohende Wächten über den Rauhenhalstobel hinein, dessen dunkle Schlünde schaurig heraufgähnten. Von der überzuckerten Nordwand der Höfats pfiffen die Steine in die Schlucht hinab; heute hätte ich nicht durch sie hinaufsteigen mögen. Auch der Nordgrat war, soweit man über seinen großen Überhang in die Höhe zu blicken vermochte, weiß bestäubt. Die Schneeschicht, die bei seiner Schärfe und der Steilheit seiner Flanken nicht tief sein konnte, genierte uns wenig; wußte ich doch nur zu gut, welche Gefahr und Arbeit das bedeuten würde. Glücklicherweise war das nicht der Fall; auch war die fünfzig Meter hohe Wand, über welche der Grat in seiner westlichen Flanke erklettert werden muß, da der Abbruch selbst völlig glatt ist, schon aper. [4]
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Die große Wand besteht zu zwei Dritteln aus einer zwischen fünfundsechzig und siebzig Grad geneigten Gras- und Erdwand, der jedoch die günstige Stufung fehlt; immerhin läßt sie sich mit Hilfe des eingeschlagenen Pickels gut erklimmen. Weniger kann man das von der anschließenden Felswand behaupten, die ganz links in der Nähe des Abbruches nach einem horizontalen Quergang auf nur handbreitem Grasbande in einer sehr seichten Spalte bezwungen wird. Sie ist von jener Neigung, die man im Gebirge als senkrecht zu bezeichnen pflegt, also ungefähr achzig Grad, und von wesentlicher technischer Schwierigkeit; sie ist überhaupt die schwierigste Stelle auf allen Höfatsrouten. Eingeklemmte winzige Graspäckchen spielen die Rolle der Tritte, die Griffe sind ungünstig gelegen, klein und öfters unzuverlässig. Wie hatten wir uns da im Vorjahre geplagt! Damals war das Erdreich hart gefroren, an den Grashalmen hatten sich Eisröhrchen gebildet und in der Felswand oben boten die übereisten Graspäckchen so wenig Angriffspunkte, daß ich mir schließlich an einer Stelle nicht anders zu helfen wußte, als dadurch, daß ich den Pickel hoch über mir mit Gewalt in ein Päckchen trieb und mich daran hinaufzog. Zu allem Überfluß bot sich uns dann vollauf Gelegenheit, die traurige Richtigkeit der Auffassung Vischers von der "Tücke des Objektes" zu bestätigen. Der Rucksack verhängt sich beim Abseilen gerade oberhalb der schwierigsten Stelle und alle Bemühungen, in prekärer Stellung denselben loszubringen, hatten nur den einen Erfolg, daß ein großes Loch in seinem Boden noch mehr erweitert wurde und ein vom Akademischen Alpenverin München für die Höfats gestiftetes Gipfelbuch plötzlich das hartnäckige Bestreben zeigte, auf diesem Wege das Weite zu suchen. Das waren dann böse Minuten gewesen, bis meine Gefährtin, die ohne jede Sicherung durch das Seil mit gewohntem Mute über das Band nachkletterte und mein gewagtes Manöver wiederholte, wieder alles in Ordnung gebracht hatte und wir endlich vereint auf dem Grate standen. Heute, unter besseren Verhältnissen, war das eine ganz andere Sache. In einer Viertelstunde waren wir oben, während wir im Vorjahre mehr als anderthalb Stunden benötigt hatten - das langsamste Vordringen, dessen ich mich, Eisarbeit nicht eingeschlossen, auf meinen Turen überhaupt erinnern kann.
Sowie man den Grat betritt, erschließt sich mit einem Schlage ein großartiger Blick in die Abstürze der Nordwand, die hart neben der Schneide von unheimlichen, weiten Kaminen durchrissen wird. Wir stehen an ihrem Rande, unvermittelt dringt das Auge in verschwimmende Tiefen, in ein Gewirre grausig wilder Schluchten, dann in die sonnenbeschienene Sohle des Oytales. Jenseits desselben aber grüßt freundlich das Nebelhorn-Haus herüber, mit freiem Auge sieht man den Turistenschwarm vor demselben umherwimmeln. Freunde sind unter ihnen, wir wissen es, die jetzt wohl besorgten Herzens zu uns herüberblicken, zu uns, die wir in heller Freude über unser Beginnen gern die Genüsse dort drüben missen und uns in unserer schwindeligen Höhe ebenso sicher und zehnmal glücklicher fühlen als die Menschlein drüben.

Nicht sattsehen konnte ich mich an dem Abgrunde zu unseren Füßen, dem sich nicht sehr viele vergleichen können an Steilheit und wilder Großartigkeit; aber die Zeit drängte. Der konstant steile und exponierte, aber eigentlich nirgends recht schwierige Grat gestattete ein schnelles Vorwärtskommen. Wo Schnee auf den schmalen Rasenpolstern lag, hatten der Fuß oderr die Pickelschaufel ihn rasch entfernt. Denjenigen, der die Allgäuer "Grastechnik" zum ersten Male kennen lernt und daher der Zuverlässigkeit der Schöpfe mißtraut, mag bei diesem luftigen Gange wohl ein Gefühl der Unsicherheit beschleichen und dieser Eindruck wird ihm den Grat schwieriger erscheinen lassen, als er ist. In Wahrheit haften die meisten Polster fest an den Felsen und gwähren guten Griff und Tritt. Selbstverständlich ist dennoch große Vorsicht am Platze, wenn ihnen auch der Wohlgeübte den Grad der Festigkeit durchwegs schon ansieht. Alles in allem genommen, treten erhebliche Schwierigkeiten, mit Ausnahme der Felswand, nur dann auf, wenn das Erdreich gefroren ist; auch die Gefahr ist in diesem Falle sehr bedeutend, weniger groß, aber durchaus nicht zu unterschätzen dann, wenn infolge starker Durchfeuchtung die Grasbüschel ihres Haltes beraubt sind. Fünfzig Meter unter dem Gipfel machten wir eine Schwenkung nach links und betraten die hier schon gut gangbare Nordwand; auf ihren steilen Hängen gelangten wir in die Scharte zwischen zweitem und Westgipfel und schließlich von der Südseite auf letzteren; der ganze Aufstieg über den Nordgrat hatte nur eine Stunde in Anspruch genommen.

Nachdem wir die erste Hälfte unseres Tagewerkes in wesentlich kürzerer Zeit hinter uns gebracht hatten, als wir ursprünglich gehofft, konnten wir uns schon einen ausgedehnteren Gipfelaufenthalt gestatten. Die Aussicht ist überaus eigenartig, besonders der Anblick der anderen Gipfel originell, aber man verlange keine nähere Beschreibung und Aufzählung dessen, was man sieht, von mir. Es gibt meinem Geschmacke nach nichts Schöneres, als auf einer hübsch luftigen, von der übrigen Welt möglichst abgeschnittenen Zinne im dolce-far-niente [5]zu liegen, sich von der Sonne bescheinen und niemand Rechenschaft darüber geben zu müssen, was man dabei gedacht und gesehen habe.
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Nordostgrat des Ostgipfels / Zeichnung von Ernst Platz im DÖAV-Jahrbuch v. 1896 Die liebe Sonne hatte die Güte, es zur Stunde noch recht gnädig mit uns zu meinen, wenn auch im Westen schon drohendes Gewölke aufstieg. Zum Schlusse erhielten wir noch turistischen Besuch, nach dessen Erscheinen wir uns alsbald empfahlen. Die Gratwanderung, Hügel auf Hügel ab, konnte beginnen. Mir ist im allgemeinen Gratkletterei nicht sehr sympatisch; denn man muß dabei noch viel mehr als auf die Felsen sein Augenmerk auf seinen äußeren Menschen richten, um durch diese natürlichen Stacheldrahtzäune nicht in einen ganz unzivilisierten Zustand versetzt zu werden. Aber die heutige macht wirklich eine Ausnahme, so interessant, unterhaltend und last not least instruktiv ist sie für denjenigen, der auf die Berge steigt, nicht nur um sie mit seiner Anwesenheit beehrt zu haben, sondern auch um sie wirklich kennen zu lernen. Kein Besucher des Westgipfels sollte den Gang zum zweiten Gipfel versäumen, der nur zehn Minuten in Anspruch nimmt; ein reicher Edelweißsegen wird die Mühe belohnen; außerdem erschließt sich hier schon einlehrreicher Blick in die gewaltige Tiefe des Roten Lochs und auf den eleganten Nordostgrat.

In noch höherem Maße muß das der Fall sein von dem in nächster Nähe winkenden Mittelgipfel; wir eilen also hinab zur Höfatsscharte, ums uns seinen Nordwestgrat näher anzusehen. Von der eben verlassenen Spitze aus scheint er einen geradezu imposanten Neigungswinkel zu besitzen, der jedoch immer mehr zusammenschrumpft, je näher man ihm auf den Leib rückt. "Nil admirari" [6] ist eine besonders für den Alpinisten nützliche Regel. Immerhin machte der dünnwandige und offenbar äußerst brüchige, von zwei mannshohen senkrechten Stufen unterbrochene Aufbau, der einsturzdrohenden Ruinen aufs Haar gleicht, auf uns einen ziemlichen Eindruck, so daß wir beschlossen, es sollte stets nur einer in Bewegung sein. Rechts und links fallen senkrechte, aber dennoch grasgesprenkelte Wände zur Tiefe. Die technischen Schwierigkeiten waren nicht sehr bedeutend, aber die Unzuverlässigkeit des Gesteins spottete wirklich jeder Beschreibung.—
Ganz oben setzt der Grat rechtwinklig mit einer mäßig hohen glatten Platte an das südliche Ende der wohl dreißig Meter langen und fast horizontalen Gipfelschneide an, die von Südwesten nach Nordosten zieht und an ihrem nördlichen Ende ein winziges Steinmännchen, das Wahrzeichen der ersten Ersteiger, trägt. Die außergewöhnliche Schärfe der Schneide, — die berühmte Phrase "messerscharf" ist leider in jüngster Zeit etwas in Mißkredit gekommen, sonst würde ich sie sicher hier anwenden —, lädt zu einem lustigen und luftigen Ritt förmlich ein. Nun stehen wir, oder besser gesagt, reiten wir im Mittelpunkte des ganzen Stockes auf der Warte, die den besten Überblick über die topographische Gestaltung des Berges gibt und auch in ihrem eigenen Aufbau den eigenartigen Charakter desselben am vollendetsten an sich trägt. Wie schade, daß sie so gar keine Höflichkeit gegen ihre Besucher kennt und dieselben zwingt, mit Rücksicht auf den mehr als unbequemen Sitz nach kurzem Aufenthalt ihr Adieu zu sagen!
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Nun mußte das große Fragezeichen der Tur an die Reihe kommen; wir wußten, daß unsere Vorgänger, die den Gratübergang in umgekehrter Richtung gemacht hatten, sich über das untere Stück des Nordostgrates des Ostgipfels abgeseilt hatten, und es war sehr fraglich, ob die Bezwingung des Grates aufwärts ein einfaches Stück wäre. Bösartig genug sieht der vor uns aufragende, über dreißig Meter hohe Turm aus und wir nähern un ihm in begreiflicher Spannung. Ein bei der Exponiertheit des Terrains mit peinlicher Vorsicht bewerkstelligter Abstieg brachte uns in die Scharte, auf der mein Bruder sich im Reitsitz niederließ und das Seil versicherte. Von dieser Scharte fällt die Nordwand direkt in einem ganz kolossalen, ununterbrochenen Überhang viele hundert Meter tief ins Rote Loch. Der Grat selbst erhebt sich mit einigen senkrechten Stufen, die zwar zu überklettern sind; ich zog es aber als interessanter und technisch leichter, wenn auch gefährlicher, vor, die senkrechten Absätze in der Nordwand zum umgehen. Freund Platz hatte mir viel von dieser in ihrer Eigenart etwas ungemütlichen Stelle erzählt und ich sah nun seine Schilderung bestätigt. In die Wand hinaus führt einige Meter oberhalb der Scharte ein kaum handbreites, anfänglich ein wenig absteigendes Grasband , das ich mit dem Pickel vom Schnee befreite und dann bis an sein Ende beschritt. Die Stelle ist exponiert wie wenige, die ich kenne; ein Felsstück, das ich in der Mitte des Bandes aus der brüchigen Felswand riß, mit ausgestrecktem Arme hinter mich hielt und dann fallen ließ, stürzte, ohne aufzuschlagen, bis ins Rote Loch, so daß erst nach vielen Sekunden das Geräusch des Aufschlages an unser Ohr drang. Eine nicht lange, aber nahezu senkrechte Graswand, die mit Hilfe des eingehackten Eisbeiles in aller Vorsicht erklommen wurde, führte mich dann wieder auf den Grat empor, den ich schon oberhalb der Abbrüche erreichte. Mein Bruder umging diese in der südlichen Flanke, nahe der Graskante, was auch technisch die leichteste Art der Überwindung sein dürfte. Rasch klommen wir über das letzte, unschwierige Stück hinan und betraten den in seiner Form dem Westgipfel auffallend ähnlichen Ostgipfel.

Seilschaft an der Höfats um ca. 1900 Es dürfte aus meiner Schilderung hervorgehen, daß der Gratübergang über die vier Spitzen, zu dem wir (ohne die Gipfelaufenthalte) eine Stunde fünf Minuten benötigt hatten, nicht gerade sehr schwierig zu nennen ist. Er eignet sich aber durchaus nicht für ängstliche Gemüter und noch weniger für Anfänger; denn was er zur gefahrlosen Durchführung der Tur fordert, ist etwas, was ich höher schätze als leicht zu erwerbende Kletterfertigkeit, nämlich völlige Sicherheit des Fußes und Vertrautheit mit der Behandlung lockeren und nachgiebigen Terrains, Eigenschaften, die man bei bekannten und unbekannten, Turisten nicht allzuoft findet. — Den Abstieg nahmen wir, statt zuerst zur Ostkante abzuweichen, aus Versehen von Anfang an direkt über den Südostgrat, der sich unvermutet zu einer scharf abfallenden, plattengepanzerten Schneide zusammenschnürt. Nochmals zum Gipfel zurückzukehren, waren wir zu bequem; indem wir die Schneide unter den Arm nahmen und auf den glatten Platten hinunterrutschten — eine ungemein praktische, wenn auch durchaus nicht elegante Methode —, hatten wir die schlechten Stellen bald überwunden. Dank einem lustigen Galopp über die, zum Laufen wie geschaffenen, weichen und elastischen Rasenpolster der mittleren und unteren Partien des edelweißbesäten Grates erreichten wir schon nach vierzig Minuten das Älpele. Wir hatten ursprünglich vor, zum Roten Loch hinüberzutraversieren und durch dasselbe wieder zum zweiten Gipfel anzusteigen; den heftigen Streit zwischen "Pflicht" und Bequemlichkeit entschied ein plötzlich einfallender Gewitterregen, der einen willkommenen Anlaß bot, diesen Vorsatz ohne nachfolgende Gewissensbisse aufzugeben.
Über Gerstruben wanderte ich hinaus nach Oberstdorf mit dem befriedigenden Bewußtsein, eine schon lange unangenehm empfundene Lücke in meiner Kenntnis der Höfats ausgefüllt zu haben.
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Die Höfats ist der einzige Berg, den ich alljährlich besucht haben muß, wenn ich am Schlusse des Jahres beim Durchlesen meines Turenbuches ganz befriedigt sein soll. Sie ist eben, was ich eine Individualität, einen Charakter nennen möchte, und das Eigenartige, Charaktervolle zieht uns ja immer wieder von neuem an. Als mir daher in der letzten Septemberwoche des Jahres 1895 beträchtlicher Neuschnee ad oculos demonstrierte, daß die Saison eigentlich schon zu Ende sei, fand ich, daß es höchste Zeit war, der Höfats meinen Pflichtbesuch abzustatten. Die Wünsche der Herren J. Bachschmied [8], E. Christa [9], A. Weixler [10], die gleich mir eifrige Höfatsanhänger sind, die meines Bruders Ernst und die meinigen trafen sich darum in rührender Einigkeit, als der Name Höfats fiel. Meine Freude und auch mein Erstaunen wurde noch viel größer, als mir die beiden ersten Herren im Vertrauen verrieten, daß sie einen sehr eleganten neuen Weg auf die Höfats ausgeheckt und vor einigen Wochen auch probiert hätten; in der Mitte sei derselbe freilich sehr unangenehm geworden. Mein Gesicht mußte allerdings etwas länger geworden sein, als ich hörte, daß mir nie der Gedanke an einen Aufstieg von dieser Seite gekommen war, und wer diese scheinbar nur äußerst spärlich mit Gras durchsetzte, wie eine Riesenschiefertafel aufgerichtete Plattenwand in ihrer imponirenden Höhe und Steilheit gesehen hat, wird das begreiflich finden. "Nil admirari — — —"; meinen wackeren Gefährten fällt das Verdienst zu, frisch und mutig wenigstens "probiert" zu haben; und auch jetzt wußten sie die Schleusen ihrer Beredsamkeit so sehr zu öffnen, daß ich nach einigem Zögern mich einverstanden erklärte, bei einem erneuten Versuche mitzuwirken.

Unsere Bequemlichkeit, und ich fürchte fast: speziell die meinige, war wieder einmal so groß, daß ich nach dem Aufbruch von Oberstdorf vorschlug, als Nachtquartier die nur anderthalb Stunden entfernte Gerstrubener Alm zu wählen und, da meinen Gefährten auch der ihnen unbekannte Nordgrat am Herzen lag, vorerst eine Wiederholung meiner Wanderung vom letzten Jahr vorzunehmen; vom Ostgipfel wollten wir dann versuchen, die Südostwand im Abstieg zu bezwingen.
Da sämtliche Teilnehmer tüchtige und wohlerfahrene "Grassteiger" waren — wie bei diesem Worte so mancher Dolomitenkletterer lächeln wird, der in seiner Unkenntnis mit souveräner Verachtung auf die Nördlichen Kalkalpen und gar auf einen "Grasberg" sehen zu müssen glaubt! — , so kamen wir am nächsten Tage (7. Oktober 1895) ungemein rasch vorwärts. Nach wenig über drei Stunden hatten wir den Westgipfel erreicht, der Gratübergang zum Ostgipfel nahm nur fünfzig Minuten in Anspruch. Diesmal wurde der Turm des Ostgipfels auf der Gratschneide erklettert und nicht in die Nordwand ausgebogen.
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In den Wänden über dem Roten Loch / Zeichnung von Ernst Platz im DÖAV-Jahrbuch v. 1896 Es war zwölf Uhr, als wir, in zwei Partien aneinandergeseilt, den Ostgipfel verließen. Über plattiges Terrain mit spärlichen Grasschöpfen kletterten wir hinab, indem wir uns dabei stets in der Nähe der Ostkante hielten. Die Sache ließ sich vorderhand recht gut an und wir kamen rasch tiefer. Aber schon von weitem sahen wir, daß die schiefe Fläche, auf der wir uns bewegten, weiter unten eigentümlich abschnitt und in der Luft endete, für den Kundigen ein deutliches Zeichen, daß ein gewaltiger Abfall die bisherige gleichmäßige Neigung unterbrach. Die Ostkante bildete ganz in die Nähe des Abfalls einen balkonartigen Kopf, auf den wir hinaustraten. Was wir hier sahen, war wohl geeignet, uns alle gleichzeitig zum Schütteln der Köpfe zu veranlassen. In teils senkrecht, teils überhängend gewölbten Platten bricht die Südostwand in ihrer vollen Breite ab, um über hundert Meter tiefer wieder in gangbares Terrain überzugehen. Bis in die Nähe dieses Plattengürtels, in gleiche Höhe mit dem markanten, überhängenden Zahn in der Ostkante, waren Christa und Bachschmied bei ihrem ersten Versuche von unten gekommen. Daß hier nichts zu machen sei, sagte der erste Blick. Es blieb ein Ausweg, aber ich scheute mich einige Zeit, ihn meinen Gefährten gegenüber zu befürworten. Was uns auf der Nordseite, in den gewaltigen Wänden über dem Roten Loch, entgegengähnte, war ein Anblick, der verlockend und abschreckend zu gleicher Zeit wirkte.

Ein bekannter Turist schrieb mir einst: "Die Höfats ist der eleganteste Berg, den ich kenne, aber sie ist eben doch nur ein fader Grasmugel, freilich bester Sorte." Jeder Kenner der Höfats wird den ersten Teil dieser Behauptung mit Vergnügen unterschreiben, gegen den zweiten wird er energisch protestieren, den dritten, und zwar allerbeste Sorte, hatten wir vor uns. Keinem von uns, die wir doch alle bereits manchen Strauß mit Grashalmen hinter uns hatten, war derartiges schon zu Gesicht gekommen: eine von oben gesehen zusammenhängende Graswand, eine Wand in des Wortes verwegenster Bedeutung, hundert Meter hoch, im Durchschnitt sicher fünfundsiebzig Grad geneigt, mit den letzten Resten wässerigen Neuschnees bedeckt, wo ein Schopf eine ebene Oberfläche bot; an ihrem Ende die ominöse, abbrechende Linie, darunter Luft, viel Luft — ein dreihundert Meter hoher Überhang in das Rote Loch. Rechts von ihrem Ende leitete ein weniger geneigter Hang zur Ostkante zurück und gestattete den erneuten Übertritt auf die Südostwand.

Technisch sehr schwer war die Wand ersichtlich nicht, aber ungewöhnlich gefährlich. Sie war offenbar der schärfste Gegensatz zum Dolomitklettern; die Arme hatten auf diesem trügerischen Terrain wenig zu tun, kaltes Blut und eisenfeste Knie waren die Hauptsache. Ein unbeteiligter Zuschauer hätte bei unserem Anblicke wohl herzlich gelacht. Mit sorgenden Mienen mustereten wir uns gegenseitig; der eine faßte bedenklich seine Nase an, der andere kraute sich hinter den Ohren, ein dritter zupfte an seinem imaginären Schnurrbart. "Da unten geht es weiter", meinte ich. Die Bemerkung war wenig geistreich, denn das sah jeder selbst. Keiner wollte recht daran, keine auch zurück. Meine Gefährten überließen mir schließlich die Entscheidung. Ich explizierte unserer kleinen Armee einen Schlachtenplan, an dessen Ausführung wir sofort schritten. Wir seilten uns alle fünf an die zusammengeknüpften Seile; auf diese Weise hatte jeder einen Spielraum von über acht Metern. Der Erste, Dritte und Letzte sollten stets gleichzeitig in Bewegung sein, während die anderen stehen blieben, das Seil straff gespannt halten und durch Einschlagen des Eisbeiles sich verankern sollten; ebenso umgekehrt. So war ein Unglücksfall auch bei dem Sturze von eine oder zwei Teilnehmern ausgeschlossen, wenn nur der Letzte nicht fiel. In diesem Fall wäre allerdings eine gemeinschaftliche Katastrophe fast unvermeidlich gewesen. Langsam, sehr langsam waren natürlich die Fortschritte, die wir bei dieser umständlichen Methode machten. Das Gras war hie und da, was man von oben nicht bemerken konnte, von senkrechten, brüchigen Felsen durchbrochen, die uns zu manchen Zickzackbewegungen nötigten. Das Bild von Freund Platz versinnlicht in größter Naturgetreue den Charakter der Wand und unser Verfahren. Ergreifend war der Blick nach links auf die Riesenwände, welche der Ost-, Mittel- und zweite Gipfel in das Rote Loch entsenden, so daß unsere Augen trotz der ersichtlich gefährlichen Situation immer wieder wie gebannt zu dem großartigen Bilde sich wandten.
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Südostwand der Höfats / Zeichnung von Ernst Platz im DÖAV-Jahrbuch v. 1896 Fünf Viertelstunden waren verflossen, seit wir die Graslahne betreten hatten, da setzte Christa als erster den Fuß auf den relativ sicheren Boden des Hanges, der uns zur Südostwand zurückleiten sollte. Bald waren auch die anderen nachgekommen; jeder freute sich baß und sah mit geheimem Schmunzeln empor zu der in unglaublicher Steilheit sich aufbäumenden Wand, die hinter uns lag. Da — ein Schrei meines Bruders: "Herrgott, mein Rucksack ist noch oben!" Der Unglückselige hatte ihn bei den verschiedenen Seilmanipulationen auf dem vorspringenden Kopfe des Ostgrates abgelegt und war dann frisch, fröhlich und frei von jeder Last über die Wand herabspaziert. Das Wetter sah nicht gut aus; wenn Regen eintrat, dann verschwand der Rucksack von seiner exponierten Ruhestätte sicher auf Nimmerwiedersehen. Es war noch dazu der meinige, der infolge der vielen Dolomitenfahrten, die er erlebt, für mich einen sehr großen Wert hatte. Leicht erklärlich, daß ich meinem Herzen durch entsprechende, sehr deutliche Reden Luft machte; selbst die mit großem Ernst von einem der Teilnehmer aufgeworfende Frage, deren Beantwortung ich übrigens alpinen Kritikern überlasse, "ob das Verhalten des Schuldigen auf Leichtsinn oder Unerfahrenheit oder gar auf beides zurückzuführen sei", vermochte mich vorderhand nicht zu besänftigen. Schließlich blieb doch nichts übrig, als das gefährliche Stückchen nochmals zur unternehmen. Der Aufstieg ging noch leidlich von statten, mit einem freudigen Juchzer warf ich den geliebten Ausrüstungsgegenstand auf den Rücken und dann wieder schleunigst hinab! Durch die große Gesellschaft waren die feuchten Schöpfe vielfach in den Wurzeln gelöst und ihres Haltes beraubt, so daß der Abstieg eine recht heikle Sache wurde; hätte ich meinen kurzen Pickel nicht in Vorausahnung des Kommenden mit Bachschmieds riesenlanger Hellebarde [11] vertauscht, als ich meinen Rucksackexpedition antrat, so wäre diese jedenfalls sehr unangenehm geworden. Meine Gefährten, die ich nach einer halben Stunde wieder einholte, warteten unterdessen am Fuße des überhängenden Zahnes in der Ostkante auf mich. Nunmehr übernahmen Bachschmied und Christa als Kenner des Weges die Führung. Auf schmalen Rasenbändern über die glatten Platten hinweggaukelnd, wandten wir uns in einer großen Schleife abwärts gegen die Mitte der Wand; das Terrain ist noch immer nicht leicht und erfordert viel Achtsamkeit. Als wir auf tiefe, glatte Rinnen stießen, änderten wir wiederum die Richtung und gelangten schließlich in der innersten nördlichen Ecke der Wand, in der Nähe der Ostkante, auf den sicheren Geröllboden. Der Abstieg über die vierhundert Meter hohe Wand hatte drei Stunden in Anspruch genommen.
Wenn ich die hier beschriebene Route jenen empfehle, die auf Gras vollste Sicherheit besitzen, so geschieht es, weil sie die Elitetur unter allen ganz reinen Grasturen ist und in dieser Art in den Alpen schwerlich ihresgleichen findet.
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Bemerkungen:
Online-Veröffentlichung der Erzählung "Zwei Überschreitungen der Höfats" aus dem Buch von Josef Enzensperger "Ein Bergsteigerleben" (1924), basierend auf dem ursprünglichen Beitrag in der Zeitschrift des Deutschen und Östereichischen Alpenvereins (1896).
Rechtschreibung, Zeichensetzung und Satzbau sind im originalen Zustand belassen worden. Bei den Originalskizzen handelt es sich um die in der Zeitschrift vom DÖAV veröffentlichten echten Zeitdokumente aus jener Zeit. Ergänzend wurden historische Ansichtskarten mit Höfatsmotiven in die Erzählung eingebaut, die jedoch nicht Gegenstand der Originalliteratur waren.
Zum besseren Verständnis einiger von Enzensperger benutzter und im heutigen Sprachgebrauch weithin unbekannter Ausdrücke wurden gesonderte Fußnoten angebracht (Fußnoten werden auch beim Überfahren mit der Maus angezeigt) bzw. am Ende der Erzählung in einem Glossar zusammengefasst.

Zusätzlicher Hinweis: Die Aufarbeitung bzw. Bereitstellung dieses Dokumentes ist im Sinne der Verfügbarmachung eines alpinhistorischen literarischen Werkes zu verstehen. Die Tourenbeschreibung ersetzt keinesfalls aktuelle Bergführerliteratur.
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Glossar:
[1] instruktiv: instruktiv [lateinisch-französisch], lehrreich, aufschlussreich -->zurück
[2] Lahne: f. im bairischen Sprachgebiete der lichte baumlose Streifen, der sich an einem Berge von oben nach unten zieht, Erdabrutschung (Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm) -->zurück
[3] Jähe: oder jäh (mhd. gœhe, d. i. schnell, plötzlich) bezeichnet ursprünglich das, was mit heftiger Schnelligkeit und unerwartet geschieht, dann eine plötzliche abfallende abschüssige Fläche, auf der ein Körper schnell hinabgleitet, im Gegensatz zur allmählichen Abdachung (Quelle: Johann August Eberhards Synonymisches Handwörterbuch) -->zurück
[4] Aper: (althochdeutsch: abar) bedeutet: schneefrei, ohne Schnee, als Gegenteil von schneebedeckt (Quelle: wikipedia.de) -->zurück
[5] dolce-far-niente: (ital.) das süße Nichtstun -->zurück
[6] Nil admirari: [lat.] "nichts bewundern oder nichts anstaunen", die angebliche Antwort des Pythagoras, als ihn jemand fragte, was er durch sein Nachdenken erringe. Das "nichts bewundern" wird im Sinne von "sich nicht überraschen lassen", "nicht zuviel erwarten" verwendet. Der komplette Text lautet: Nil admirari prope res est una, Numici, solaque, quae possit facere et servare beatum (= Nichts anstaunen: dies ist das einzige, mein Numicius, das allein kann glücklich machen und erhalten)-->zurück
[7] ad oculos:[lateinisch], vor Augen; ad oculos demonstrieren, vor Augen führen, durch Anschauungsmaterial oder Ähnliches beweisen -->zurück
[8] Julius Bachschmied: (1863-1917) Pionier der Allgäuer Bergsteigergeschichte, fest verbunden mit der Geschichte der DAV-Sektion Kaufbeuren-Gablonz -->zurück
[9] Emanuel Christa: (1874-1948) Mitakteur im Tannheimer Tal zusammen mit J. Bachschmied. Er hat als erster den Turm im Wilden Kaiser bestiegen, der seinen Namen trägt -->zurück
[10] August Weixler:Brauereibesitzer aus Kempten, Mitakteur im Tannheimer Tal zusammen mit J. Bachschmied -->zurück
[11] Hellebarde: im Mittelalter Stoß- und Hiebwaffe des Fußvolks mit etwa 2 m langem Holzschaft; an der Spitze eine Stoßklinge und ein Beil (Barte) mit Haken, der dazu diente, feindliche Reiter vom Pferd zu reißen. -->zurück

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