Hildebrandslied

Hildebrandslied (770-80 n.Chr.)

Anonymes fragmentarisches Heldenlied, in stabreimenden Langzeilen geschrieben. Das Lied ist aller Wahrscheinlichkeit nach zur Zeit der Völkerwanderung bei den Langobarden in Oberitalien entstanden und gelangte später nach Bayern; die erhaltene Aufzeichnung (um 840) stammt aus dem Kloster Fulda; sie ist in einem nicht lokalisierbaren Mischdialekt geschrieben, der langobardische, hoch- und niederdeutsche Elemente enthält.

Das Gedicht, das als Sproßfabel zur historischen Dietrichsage gehört (K. Düwel), ist das einzige erhaltene Heldenlied in deutscher Sprache. Sein Gegenstand ist die Begegnung zwischen Hildebrand, einem Gefolgsmann Dietrichs von Bern, und seinem Sohn Hadubrand nach dreißigjähriger Trennung. Beide treffen sich »untar heriun tuem« (»zwischen zwei Heeren«), wobei nicht eindeutig ist, ob sie sich, wie es als Motiv aus der späteren Dietrich-Epik bekannt ist, auf einem Kundschaftsritt befinden oder sich als Protagonisten aufeinanderstoßender Heere gegenüberstehen. Hildebrand erkennt in Hadubrand seinen Sohn, als dieser seinen eigenen und seines Vaters Namen nennt. Hadubrand berichtet zugleich das Schicksal Hildebrands, von dem er annehmen muß, daß er tot sei. Darum will und kann er den immer deutlicheren Hinweisen Hildebrands, daß er in ihm seinen Vater vor sich habe, nicht glauben. Mit seinem Mißtrauen gegen Hildebrand und mit der Verhöhnung des um den Sohn werbenden Vaters treibt er diesen in einen Konflikt zwischen Ehrgebot und Vaterliebe, den Hildebrand zugunsten der Ehre entscheidet: Es kommt zum Zweikampf. Auf dem Höhepunkt der Kampfschilderung bricht der Text der Aufzeichnung ab.

Man hat immer wieder angenommen, daß das vollständige Lied vom Tod des Sohnes berichtet habe. Diesen Schluß stützen Zeugnisse aus der nordischen Überlieferung der Sage, Hildebrands Sterbelied in der Ásmundarsaga kappabana (14. Jh.), das Saxo Grammaticus (um 1200) bereits nach einer älteren Quelle in lateinische Hexameter umgedichtet hat, und die spätmittelalterliche färöische Ballade Snolvs kvæði. Erst eine späte deutsche Formung des Stoffes, das Jüngere Hildebrandslied (15. Jh.), gibt dem Geschehen eine glückliche Wendung. Eine Rücknahme des tragischen Schlusses deutet sich aber schon im 13. Jh. an: in Alpharts Tod, einem weiteren Beleg der Dietrich-Epik.

Das Motiv des Vater-Sohn-Kampfes kommt auch in der norwegischen, irischen, russischen und persischen Literatur vor; das führte zu der Annahme, daß die Fabel entweder spontan »bei den betreffenden Völkern unter ähnlichen kulturellen Bedingungen« (B. Busse) entstanden sei oder aber, daß ihr ein indogermanischer Sagentypus zugrunde liege, der bei den einzelnen Völkern erhalten geblieben sei. Dagegen spricht allerdings die Sonderstellung des Hildebrandsliedes, dem das Motiv der Vatersuche fehlt (D. Hoffmann). Eine weitere Theorie geht davon aus, daß es auf eine Wanderfabel zurückgeht (A. Heusler).Den geschichtlichen Hintergrund bildet ein im Nachhinein umgedeutetes, mythisch überhöhtes und verklärtes Ereignis um den Ostgotenkönig Theoderich den Großen (455/526): Theoderich fällt 489 mit der Zustimmung des oströmischen Kaisers Zeno in Italien ein, besiegt Odoaker, den letzten Nachfolger des weströmischen Kaisers. Die vereinbarte gemeinsame Herrschaft über Italien beendet Theoderich, indem er Odoaker ermordet; in der Historiographie jedoch, deren Auffassung dann auch von der Heldendichtung übernommen wird, ist Odoaker der Tyrann, vor dessen Herrschaft Theoderich bzw. Dietrich ins Reich der Hunnen flieht und dort die Wiedereroberung seines Reiches vorbereitet. Unklar bleibt allerdings, auf welchem historischen Vorbild die Figur des Hildebrand beruht. Ebenfalls strittig ist die Frage, ob das Hildebrandslied noch heidnisch oder schon christlich geprägt ist. Die Tragik des Konflikts zwischen Sippenbindung und Kriegerehre wird ganz im Sinne der germanisch-heroischen Dichtung ohne Urteil und Anteilnahme als unausweichliches Schicksal (»wewurt skihit« / »Wehgeschick vollzieht sich«) dargestellt; gleichwohl aber ruft Hildebrand mehrmals Gott an. Die neuere Forschung bezweifelt allerdings, daß mit »waltant got« und »irmingot« der Gott der Christen gemeint ist (K. Schneider).

Stilistisch weist das Hildebrandslied charakteristische Merkmale der germanischen Heldendichtung auf: vorherrschend ist der Dialog; er wird durch einen erzählenden Teil eingeleitet und beschlossen: »Bemerkenswert die chiastische Struktur der Redeteile: Hadubrands Anteil nimmt im Fortgang des Dialogs ab, Hildebrands dagegen wächst« (K. Düwel). Weitere Stilmittel sind die Wiederholung und die Variation, beschauliche Rede kommt nicht vor.
Als Anlaß für die Aufzeichnung des Liedes kommen mehrere Gründe in Betracht: das politisch-dynastische Interesse Karls des Großen an Theoderich; die Konflikte zwischen Ludwig dem Frommen und seinen Söhnen, oder aber die Bekehrung der Sachsen, deren heidnischen Liedern man mit einem ebenfalls heroischen, aber doch christlich gefärbten Lied begegnen will.

Quelle: Prof. Dr. Horst D. Schlosser/Susanne Rick M.A. 2003

Ik gihorta ðat seggen, Ich hörte (glaubwürdig) berichten,
ðat sih urhettun ænon muotin,daß zwei Krieger, Hildebrand und Hadubrand, (allein)
Hiltibrant enti Haðubrant untar heriun tuem. zwischen ihren beiden Heeren, aufeinanderstießen.
sunufatarungo iro saro rihtun, Zwei Leute von gleichem Blut, Vater und Sohn, rückten da ihre Rüstung zurecht,
garutun sê iro guðhamun, gurtun sih iro suert ana,sie strafften ihre Panzerhemden und gürteten ihre
helidos, ubar hringa do sie to dero hiltiu ritun.Schwerter über die Eisenringe, die Männer, als sie zu diesem Kampf ritten.
Hiltibrant gimahalta, [Heribrantes sunu,] her uuas heroro man,Hildebrand, Heribrands Sohn, begann die Rede – er war der Ältere,
ferahes frotoro; her fragen gistuontauch der Erfahrenere –, mit wenigen Worten
fohem uuortum, hwer sin fater warifragte er, von welchen Leuten im Volk
fireo in folche, der Vater des anderen sei,
«eddo hwelihhes cnuosles du sis.„oder (sag mir,) zu welchem Geschlecht du zählst.
ibu du mi enan sages, ik mi de odre uuet,Wenn du mir nur einen nennst, weiß ich schon, wer die
chind, in chunincriche: chud ist mir al irmindeot.»andern sind, die Angehörigen im Stammesverband. Ich kenne das ganze Volk.“ –
Hadubrant gimahalta, Hiltibrantes sunu:Hadubrand, Hildebrands Sohn, antwortete:
«dat sagetun mi usere liuti, „Es haben mir unsere Leute gesagt,
alte anti frote, dea erhina warun,alte und erfahrene, die schon früher lebten,
dat Hiltibrant hætti min fater: ih heittu Hadubrant.daß mein Vater Hildebrand heiße. Mein Name ist Hadubrand.
forn her ostar giweit, floh her Otachres nid,Einst ist mein Vater nach Osten gezogen, auf der Flucht vor Odoakars Haß,
hina miti Theotrihhe enti sinero degano filu.zusammen mit Theoderich und vielen seiner Krieger.
her furlaet in lante luttila sittenEr hat in der Heimat, in seinem Haus
prut in bure, barn unwahsan,hilflos und ohne Erbe seine junge Frau (und) ein kleines Kind
arbeo laosa: her raet ostar hina.zurückgelassen. Er ist nach Osten fortgeritten.
des sid Detrihhe darba gistuontunDanach sollte Dietrich den Verlust meines Vaters
fateres mines.dat uuas so friuntlaos man:noch sehr spüren: er war so ohne jeden Freund.
her was Otachre ummet tirri,(Mein Vater aber,) Dietrichs treuester Gefolgsmann,
degano dechisto miti Deotrichhe.hatte seinen maßlosen Zorn auf Odoakar geteilt.
her was eo folches at ente, imo was eo fehta ti leop:Immer ritt er dem Heer voran. Jeder Kampf war ihm so sehr willkommen.
chud was her. . . chonnem mannum.Die Tapfersten kannten ihn.
ni waniu ih iu lib habbe» . . .Ich glaube nicht, daß er noch am Leben ist.“ –
«wettu irmingot, [quad Hiltibrant] obana ab hevane, „Ich rufe Gott vom Himmel“, sprach Hildebrand da, „zum Zeugen an,
dat du neo dana halt mit sus sippan mandaß du bisher noch nicht einen so nah Verwandten
dinc ni gileitos» . . .zum Gegener gewählt hast.“
want her do ar arme wuntane bauga,Darauf löste er Ringe vom Arm,
cheisuringu gitan, so imo se der chuning gap,aus Kaisergold geschmiedet, wie sie ihm der König,
Huneo truhtin: «dat ih dir it nu bi huldi gibu.»der Herrscher der Hunnen, geschenkt hatte: „Das schenke ich dir aus Freundschaft.“
Hadubrant gimahalta, Hiltibrantes sunu: – Hadubrand, Hildebrands Sohn, entgegnete aber:
«mit geru scal man geba infahan „Ein Mann soll (solche) Gaben mit dem Speer aufnehmen:
ort widar orte. Spitze gegen Spitze!
du bist dir, alter Hun, ummet spaher,Alter Hunne, du bist überaus listig;
spenis mih mit dinem wortun, wili mih dinu speru werpan.wiegst mich mit deinen Worten in Sicherheit, um mich dann (um so besser) mit deinem Speer zu treffen
pist also gialtet man, so du ewin inwit fortos.Du bist schon so alt, und doch bist du immer (noch) voll Hinterlist. –
dat sagetun mi seolidanteIch weiß es von Seefahrern, die westwärts über Meer
westar ubar wentilseo, dat inan wic furnam:(gekommen sind), daß ein Kampf mir meinen Vater genommen hat:
tot ist Hiltibrant, Heribrantes suno.»tot ist Hildebrand, der Sohn Heribrands!“ –
Hiltibrant gimahalta, Heribrantes suno:Hildebrand, Heribrands Sohn, sagte da:
«wela gisihu ih in dinem hrustim,„An deiner Rüstung sehe ich deutlich,
dat du habes heme herron goten,daß du zuhause einen mächtigen Herrn hast
dat du noh bi desemo riche reccheo ni wurti. -und daß du dieses Herrschers wegen noch nicht in die Verbannung hast gehen müssen. –
welaga nu, waltant got», quad Hiltibrant,«wewurt skihit.O waltender Gott“, fahr Hildebrand fort, „das Schicksal will seinen Lauf!
ih wallota sumaro enti wintro sehstic ur lante,Ich bin sechzig Sommer und Winter außer Landes gegangen.
dar man mih eo scerita in folc sceotantero: Da hat man mich immer in die Schar der Bogenschützen gestellt.
so man mir at burc enigeru banun ni gifasta,Nachdem mich vor keiner Burg der Tod ereilt hat,
nu scal mih suasat chind suertu hauwan, soll es nun geschehn, daß mich mein eigener Sohn mit dem Schwert erschlägt,
breton mit sinu billiu, eddo ih imo ti banin werdan.mich mit seiner Waffe zu Boden fällt – oder daß ich ihm den Tod bringe.
doh maht du nu aodlihho, ibu dir din ellen taoc,Doch kannst du nun leicht, wenn deine Kraft ausreicht,
in sus heremo manhrusti giwinnan,von einem so alten Krieger die Rüstung gewinnen,
rauba birahanen, ibu du dar enic reht habes.» -die Beute an dich bringen, wenn du irgendein Recht darauf haben wirst.“ –
«der si doh nu argosto quad Hiltibrant ostarliuto, „Der wäre nun wirklich einer der Feigsten unter denen, die nach Osten gegangen sind“, sprach Hildebrand,
der dir nu wiges warne, nu dih es so wel lustit, „der dir den Kampf verweigern wollte, da du so darauf brennst,
gudea gimeinun: niuse de mottiauf den Kampf zwischen uns. So erprobe nun der, dem es auferlegt ist.
hwerdar sih hiutu dero hregilo rumen muotti,wer von uns beiden den Harnisch verlieren muß,
erdo desero brunnono bedero uualtan.»wer von uns beide Brünnen gewinnen wird!“
do lettun se ærist asckim scritan,Da ließen sie zunüchst die Eschenlanzen
scarpen scurim: dat in dem sciltim stontgegeneinander rasen, mit einem so harten Stoß, daß sie sich fest in die Schlde gruben.
do stoptun to samane staimbort chludun,Darauf ließen sie ihre laut dröhnenden Schilde selbst aufeinanderprallen.
heuwun harmlicco huitte scilti,Sie schlugen voll Ingrimm auf die weißen Schilde ein,
unti im iro lintun luttilo wurtun,bis ihnen das Lindenholz zu Spänen zerfiel,
giwigan miti wabnum von den Waffen zerschlagen...


Das Fragment wurde um 830 auf die Vorderseite des ersten Blattes und die Rückseite des letzten Blattes einer lateinischen theologischen Handschrift des Klosters Fulda geschrieben (Kassel, Landesbibliothek, Cod. theol. fol. 54, 1r und 76v). Die Handschrift in karolingischer Minuskel zeigt für den w-Laut fast durchgehend die Rune P, als akzentuiertes p geschrieben.


(Quelle: Wikipedia)