Die Walser Kerle
Widderstein, Liechelkopf, Elferkopf, Geishorn, Schalpenköpfe
Von und mit Hermann von Barth (aus dem „Alpenfreund“, Jahrgang 1874)

Hinweis: Die Aufarbeitung bzw. Bereitstellung dieses Dokumentes ist im Sinne der Verfügbarmachung eines alpinhistorischen literarischen Werkes zu verstehen. Die Tourenbeschreibung ersetzt keinesfalls aktuelle Bergführerliteratur.
 

Eine Benennung so allgemeiner und unbestimmter Art, wie die in Nordtirol vielfach gebräuchliche Bezeichnung „Joch“ für weithin sich erstreckende, gipfelreiche Gebirgskämme, findet ihre Reproduktion in jener Reihe scharfgezackter Felsenzinnen des Allgäuer Hochgebirges, welche das hintere Walsertal vom Rappenalpentale trennen und – an den wasserscheidenden Hauptgrat anschließend – die weiteste südwestliche Ausspitzung der deutschen Reichsmark in sich fassen. Auch hört man nur im Lechtale, auf tiroler Gebiet also, von den „Walser Kerlen“ reden und wird bei eingehender Nachfrage auf die zerscharteten, kahlen Grate hingewiesen, hinter welchen der Tiroler das Walsertal weiß, das Bindeglied zwischen Allgäu und Vorarlberg, wetteifernd mit beiden an Üppigkeit der Alpengründe und in rationeller, fleißiger Bewirtschaftung derselben, ein greller Kontrast gegen das benachbarte Tirol, dessen westliche Bergreviere doch die gleich günstigen natürlichen Verhältnisse der menschlichen Arbeit zur Verfügung stellen würden.

Der Name „Walser Kerle“, oberflächlich ab und für sich, hat auf den Karten, welche ja auch mit präzisen Bergnamen nicht allzu skrupulös [1] zu verfahren pflegen, die mannigfachste und widersprechendste Verwendung gefunden; bald ist es das Geishorn, bald einer der Gipfel im Hintern Gemstel, bald einer der Schafalpenköpfe, auf welchen diese Benennung bezogen wird, bald soll der mächtige Biberkopf, der mit dem Walsertal gar nichts zu schaffen hat, den „Walser Kerl“ vorstellen, oder es findet dieser Name – noch unzutreffender – sich in seiner östlichen, keinen nennenswerten Gipfel mehr tragenden Gratfortsetzung. In der Wirklichkeit ist, wie eben erwähnt, der Name „Walser Kerle“ eine Kollektivbezeichnung für die Felsenhäupter im wasserscheidenden Grate zwischen dem Breitach- und Stillachgebiete, und zudem eine völlig unbestimmte, da eben nur die jeweils im Lechtale und auf seinen Alpenweiden sichtbaren Zacken als diese „Walser Kerle“ bezeichnet werden. Es läßt sich mit Sicherheit keineswegs herausstellen, ob mit dieser Benennung wirklich der Begriff der ganzen Kette sich verbinde, von ihrem Ablösungspunkte auf dem Hauptgrat bis etwa zum Beginn ihrer weiteren Verzweigung auf dem Fidere-Sattel *) [2]. Eine kurze Skizze der Gratverkettung in diesem wenig bekannten Winkel der Allgäuer Alpen mag der Beschreibung meiner Kreuz- und Querzüge in demselben vorangeschickt werden und deren Verständnis in topographischer Beziehung erleichtern.

Das Walsertal, genauer Kleines Walser- oder Mittelbergtal genannt, welches die stärkste Wasserader des Quellengebietes der Iller, die Breitach [3], zur Oberstdorfer Talebene hinabsendet, teilst sich in seinem Hintergrunde – nahe der ziemlich volkreichen Ortschaft Mittelberg – in drei kurze Hochgebirgstäler: das Tälchen von Baad, welches in westlicher Richtung zum Starzljoche hinaufzieht, das südlich ins Gebirge einbrechende, schluchtartige Gemsteltal und das Wildental, welches südöstlich von Mittelberg von hohen Wandstufen umschlossen endet. In der Höhe der letzteren breiten hügelige Alpenterrassen, und weiter hinauf die Kare sich aus, in welche die „Walser Kerle“ den Nordfuß ihrer schroffen, zerklüfteten Mauern stellen.

Den Gebirgsscheitel im Hintergrunde des Gemsteltales bidlet ein fast stundenlanger, breiter, hügeliger Rücken, über welchem im Westen der gewaltige Kegel des Widderstein emporsteigt. Das östliche Ende des Bergwalles teilt sich in mehrfache, niedrige Höhenzüge, welche größtenteils gegen das Rappenalpental vortreten, und nach kurzem Laufe gegen letzteres mit aussichtsreichen Kuppen abbrechen; der Hauptgrat setzt mit einer langen Reihe unbedeutender und formloser Erhebungen in südöstlicher Richtung zum Schrofenpaß sich fort und schließt hier an den Biberkopf an, nordwärts dagegen erhebt sich aus dem Hügelplateau das Geishorn als erster Gipfel im Walsertalzuge. Auf ihn folgt der Liechelkopf, in welchem wir bereits einem neuen Knotenpunkte der Gebirgsgrate begegnen. Gegen Norden entsendet er den scharfschneidigen Kamm, welcher den Osten des Gemsteltales begleitet und mit dem Zwölferkopf bei Mittelberg sein Ende erreicht. Seine schräg von Westen aufsteigende, in der Nähe es runden Gipfelkopfes eine ausgesprochene Bergschulter bildende Gratkante verleiht ihm, von der Ferne gesehen, eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Biberkopf und nicht minder mit dem Geishorn am Beginne des Walsertalzuges. In der Tat findet sich dieses westlichste Objekt im Alpenpanorama Sonthofens durchweg unter dem Namen „Geishorn“ aufgeführt, eine leicht erklärbare Verwechslung.

In weitem, östlich ausgekrümmten Bogen umspannt vom Liechelkopfe ab der fortlaufende Grat die öden Schuttkare „Im Wilden“ mit seinen schroffen, nur an wenigen Einschartungen ersteigbaren Mauern; seine Gipfel, zackige, ruinenartige Gestalten, sind, wie im Lechtale unter dem gemeinsamen Namen „Walser Kerle“, so auch im Walsertale unter einer Kollektivbezeichnung – „Wilde Köpfe“ – bekannt; weit seltener bekommt man ihre individuellen Benennungen zu hören. Es sind ihrer im ganzen fünf: unmittelbar auf den Liechelkopf folgt der Angererkopf, das Kemptner Köpfl und an diese reihen sich die drei Schafalpenköpfe als Innerer, Mittlerer und Äußerer, oder wohl auch einfach als Erster, Zweiter und Dritter unterschieden. Im Norden des dritten und höchsten Schafalpenkopfes durchsetzt eine starke Depression den Gebirgskamm, der gleichzeitig neuerdings sich teilt; gegen Nordosten streicht der schroffe Dolomitzug der Griesgund- und Warmatsgundköpfe schräg ins Rappenalpental hinein, begleitet das Warmatsgundtal, welches unfern Birgsau in dasselbe ausmündet, und drängt – an die Vorstufen des Linkerskopfes nahe herantretend – die Stillach, die unmittelbar zuvor den Einödsbach aufgenommen, in die schauerliche Felsenklamm der „Bacherzwing“ zusammen. Der Walser Hauptkamm wendet sich hingegen nordwestlich und trägt im Schüsser oder Hammerspitz seinen letzten Dolomitgipfel; an ihn reihen sich die eigentlichen Walserberge: Fellhorn, Schlappolt, Söllerkopf und Söllereck, deren sanfte Formen und üppig begraste Flanken und Firste den alpinen Flysch [4] aus weiter Entfernung dem kundigen Auge verraten. -

Der Sommer 1869jhatte mich bereits in verschiedene Gruppen des Allgäuer Hochgebirges geführt, und noch war das Quellengebiet der Breitach mir ein Buch mit sieben Siegeln; kannte ich seine Gipfel, ihre gegenseitige Stellung und Verkettung ja nicht einmal dem Anschauen nach, da sie, von Norden gesehen, in einen unförmlichen Klumpen sich zusammenballen und auch dem Hauptkamme der Allgäuer Alpen, welcher fast parallel mit ihnen streicht, ihrer mehrfachen Gratbiegung und Gabelung wegen nur immer teilweise sich entfalten.
 

Der Gemstel-Pass – Holzschnitt aus Noel, Deutsches Alpenbuch Am 26. Juni brachte ein ziemlich strenger Nachmittagsmarsch mich von Sonthofen bis in den innersten Hintergrund des Walsertales und mit Staunen sah ich die grünen Bergkämme – welche dem anmutigen, breit hingelagerten Talgrunde so wohl sich anpassen – bei Riezlern und Hirschegg zurückweichen, sah über ihren geradlinigen, grasreichen Scheiteln schroffzackige, mir völlig neue Felsgipfel sich erheben, sah – Mittelberg mich nähernd – den weiten dunklen Kessel des Wildentals sich auftun und in der Höhe seiner Kare die kahlen Mauerrücken der drei Schafalpenköpfe erscheinen; sah die düsterrotgraue Wand des rundköpfigen Berges, den ich bis dahin für das Geishorn gehalten, aus unmittelbarer Nähe den Talboden von Mittelberg bedrohen, während der Hauptkamm, in ihm der riesengroße Zuckerhut des Widderstein, augenscheinlich von eine weite Strecke zurücklag.

In Mittelberg nahm ich noch einen Abendimbiß ein, die letzte zivilisierte Kost für einige Tage; in der Dämmerkühle des Abends setzte ich sodann die Wanderung fort bis zur Hinteren Gemstel-Alpe, hart am Fuße der steil zum Gemstelpaß sich erhebenden Wandstufen gelegen. Rasch engt sich das Tal; breite Trümmerhalden, aus den Schluchten der Berggehänge zu beiden Seiten hervorbrechend, decken seine Sohle, über welche der Gemstelbach inlustigen Sätzen dahinrauscht. Die braune und rötliche Färbung der Felsblöcke, welche größtenteils den hornsteinführenden Schichten des Alpenlias angehören, verleiht der Umgebung einen eigentümlichen, unsern Kalkalpen fremdartigen Charakter. Stark abschüssige, von zahllosen Wasserrinnen durchfurchte Rasenplanken decken die nahe östliche Gebirgsschranke des Tals, im Westen ragen buschige, von tiefen Gräben zerschnittene Bergrücken auf, einige kleine Wasserfälle plätschern über ihre Felsabsätze herunter.

An den Wänden der südlichen Talsperre glänzt aus dem Dunkel tief ausgehölter Klüfte die weiße Schaummasse der Gemstelbach-Kaskaden hervor. An zwei k leinen, verlassenen Alphütten der westlichen Talseite zog mein Weg vorüber, die Vordere Gemstel-Alpe, jenseit des Baches gelegen, war schon kurz dem dem Eintritte in das Tal mit im Rücken geblieben. Eben noch vor dem Heranbruche völliger Nacht langte ich an meinem Ziele, der Hinteren Gemstel-Alpe, an.

Walsertracht zwischen 1850 – 1860 © www.walser-alps.eu Ein alter Senne, dem ein paar Melker als Gehilfen zur Seite stehen, hieß mich freundlich willkommen und lud mich ein, in die Stube zu treten. Einen von der Käseküche und Feuerstelle abgetrennten, bescheiden, aber doch zimmerartig möblierten Raum besitzt fast jede Alpe im Allgäu, und wer manchen Sommer in den Schutzhütten Tirols sich herumgetrieben, um das Feuerloch herum auf kotigem Boden gesessen und auf solch unsauber gedecktem Tische sein Frühstück und Abendbrot eingenommen hat, weiß die Vorzüge alltäglicher Gegenstände, als das sind Tisch und Bank, gedielter Boden und Glasfenster, gebührend zu würdigen. In der Alpstube traf ich auch weibliche Gesellschaft, einige Walserinnen in ihrer originellen, aber keineswegs geschmackvollen Tracht. Ihr Geschäft besteht nicht so fast in Besorgung der eigentlichen Alpverrichtungen, welche hier wie im Allgäu ausschließlich den Männern zufallen, sie befassen sich vielmehr in ihrer mehr als ländlichen Einsamkeit mit der Verfertigung von Stickereien, zu welchen sie die auf weißen Kattun [5] gedruckten Muster aus Vorarlberg und aus der Schweiz beziehen und dieselben fertig gestickt wieder dorthin abliefern. Eine fleißige Stickerin soll 50 bis 60 Kreuzer mit ihrem Tagwerke verdienen können, allerdings ein geringer Lohn im Verhältnisse zu der mühsamen und anstrengenden, nicht selten bei trübem Lampenlichte bis in die Nacht fortgesetzten Arbeit. In gewandter Eile huschen die Finger der Stickerin den geschnörkelten Linien nach, welche dem über einen Holzreif gespannten Kattun aufgezeichnet sind; die Nadel wird nicht durchgezogen, besitzt vielmehr nahe an ihrer Spitze das Öhr; ein eigentümlich gebogenes Blechstückchen, welches mit der linken Hand nachgeführt wird, verhindert das Zurückgleiten des Fadens, in dessen Schleife der nächstfolgende Stich eingreift. In dieser seit Jahrhunderten bestehenden Stickmethode finden wir den Urtypus einer epochemachenden Erfindung der Neuzeit: der Nähmaschine.
Ich plauderte noch eine Weile mit den Leuten, erkundigte mich nach dem Wege auf den Widderstein und fand auch hier, was man im Gebirge meist vergebens sucht: klare, verständliche (weil von dem Ratgeber selbst verstandene) Anweisungen. Dann suchte ich für einige Stunden Ruhe im benachbarten Heuschupfen [6]und begann bei hellem Vollmondscheine um zwei Uhr morgens die Bergfahrt.
 

Der grauende Morgen sah mich bereits auf der Paßhöhe des Gemstel; noch in Dunkel gehüllt lag zu meinen Füßen das wellige Hochplateau von Krummbach-ob-Holz, während die Felskolosse des Tammberges, Juppenspitz, Mohnenfluh und die glänzend weißen Kalkwände der schöngeformten Braunarlspitze bereits im Lichte des nahenden Tages spiegelten. Um ½ 6 Uhr hatte ich auf dem bekannten, durch die klaffende Schlucht in den Felsflanken der Südseite des Kegels gebahnten Wege das Haupt des Widderstein gewonnen und verweilte auf der erhabenen Warte ein paar Stunden in Betrachtung der weitgreifenden Aussicht, deren Genuß nur durch die schneidende Morgenfrische etwas verleidet wurde. Ist die Fernsicht vom Widdersteine aus auch keineswegs so völlig unbehindert, als man der anscheinend völlig isolierten Stellung zufolge, in welcher dieser Gipfel dem nördlichen Vorlande sich zeigt, erwarten sollte, so besitzt sie doch eine Fülle der mannigfachsten Reize und für den Besucher der Allgäuer Alpen den speziellen Vorzug, ein Berggebiet ihm zu eröffnen, in welches alle übrigen Hochturen in jener Gruppe nur höchst mangelhafte Einblicke gewähren. Das wiesengrüne, gegen die Berghöhen hinauf noch mannigfach verzweigte Tälchen von Baad bildet einen anmutigen Gegensatz zu den einförmigen Hügeln des Plateaus von Hohen-Krumbach, deren trübe Färbung die Armseligkeit ihrer Vegetation verrät; ein wirres Gewoge von Bergkämmen und Hörnern erfüllt den Süden des Aussichtsbildes und erinnert daran, daß man am Knotenpunkte der nördlichen Kalkgebirge und der Zentralalpenkette sich befinde. Von den weißen Kalkmauern des Tammberges über die düsterschwärzlichen Zacken der Paznauner Berge bis zu den firnblinkenden Gipfeln der Silvretta-Gruppe unterbricht keine durch den Wechsel der Lichttöne markierte Abgrenzung die innige Verkettung des ganzen Gebirgsstockes; die gewohnte Abschneidung der fern im Süden stehenden, von begletscherten Firsten überragten Gebirge von den Graten des Vorder- und Mittelgrundes durch den Einschnitt des Inntales ist hinweggefallen, letzteres selbst hat ins Innere der Eiswelt, in seine Geburtsstätte sich zurückgezogen.

Nachdem ich noch auf dem Gipfelgrate des Widderstein mich etwas ergangen, dem Kletterübermute durch Besuch des südlich vorgeschobenen Nebenzackens Luft gemacht hatte, begann ich daran zu denken, daß der kaum angefangene Tag die Lösung noch einiger weiterer Aufgaben erheische. Die Kette, welche mit dem Geishorne vom Hauptkamme siche abtrennt, und deren einer Zweigarm die östliche Schranke des Gemsteltales bildet, lag offen wie eine Landkarte vor mir ausgebreitet; ich sah kein erhebliches Hindernis eines direkten Überganges vom Liechelkopf auf ihren Kulminationspunkt [7], den Elferkopf, und durfte hoffen, den ersteren vermittelst einer Umgehung des Geishornes ohne Schwierigkeit und in verhältnismäßig kurzer Zeit zu erreichen; denn kannte ich auch die östliche Gebirgsseite nur höchst ungenügend, so wußte ich doch, daß eine breite Terrasse vom Haldenwanger Rücken bis den Schafalpenköpfen hin in hoher Region sie durchziehe, und konnte sonach erwarten, auf jeden beliebigen Gipfel des Kammes von dieser Seite her den kürzesten – wahrscheinlich auch leichtesten – Anstieg zu entdecken.
 

In wenig mehr als einer halben Stunde befand ich mich wieder am Südfuße des Widderstein und wanderte den horizontalen, das Gemsteltal absperrenden Bergrücken entlang gegen Osten. Ich hatte diese Marschstrecke über einen ebenen Gebirgsscheitel hinweg gewissermaßen unter die Ruhepausen des heutigen Tages gerechnet und fand mich einigermaßen enttäuscht, als ich gleich nach Passieren der noch unbewohnten Gemstel-Hütte ein breites, regellos zerteiltes und zerschnittenes Hügelplateau mich verwickelt, die gebahnten Pfade sämtlich gegen das Lechtal hinabsinken, und daher keine andere Wahl vor mir sah, als geradlinig, Hügel auf, Hügel ab, die durch das Geishorn mit angewiesene Richtung zu verfolgen; natürlich war dieser Weg mit größerer Anstrengung und Ermüdung verbunden, als ein konstanter Aufstieg von gleichlanger Zeitdauer. Eine kleine Entschädigung fand sich allerdings in der freien Aussicht gegen Süden, über die Lechalpen, deren graue Riffe und Hörner bei dem Betreten jedes neuen Kuppenscheitels ihre langgedehnten Reihen entfalteten. Aus der Mitte ihrer engverschlungenen Gruppen schwingt im Südosten dominierend sich die Wetterspitze auf, ein schmaler, nördlich vorgeneigter Obelisk [8], anscheinend ohne Rivalen im ganzen Umkreise jenes gipfelreichen Gebirges; und doch muß nicht weit davon die mächtige Parseierspitze stehen, die Herrscherin im Gebiete der nordwestlichen Kalkalpen, von Herrn J. A. Specht aus Wien im Jahre 1969 zum ersten Male erstiegen. Diese weit gegen Süden gerückten Gipfel des Hauptzuges der Lechalpen drängen sich bereits so nahe an die noch höheren Gebirge Paznauns und Montafons, und werden von ihnen durch eine so wenig bedeutende Taleinsenkung getrennt, daß sie das äußere Ansehen ihrer Herrschaft über ihre Nachbarn im Aussichtsbilde dadurch vollständig einbüßen. Näherte meine Weglinie sich dem nördlichen Rande des Hügelplateaus, so erblickte ich zu meinen Füßen, durch eine unbedeutende, aber schroffe Bergstufe von mir getrennt, die steinige Mulde der Oberen Gemstel-Alpe mit ihren zwei schönen, solid gebauten Sennhütten und weiter hinaus den grünen Talboden des Gemstelbaches, die häuserbesäeten Terrassen von Mittelberg.

Schon war die zweite Marschstunde aufgebraucht, während ich ursprünglich höchstens ein Stündchen für jene Strecke in Rechnung setzen zu dürfen glaubte, als ich endlich dem Ostende des "Koblads" [9] mich näherte. Bedeutendere Hügelkuppen, auf deren mancher ein Grenzstein sich zeigte, teilten sich in zusammenhängende, von begrasten Tälchen getrennte Höhenrücken, nordwärts begann aus der formlosen Bergmasse der Walserkamm sich abzuscheiden, und die breite, einförmige Südabdachung des Geishorns deckte mir bereits nach jener Richtung hin den Fernblick. In einer Viertelstunde hatte ich den flachen, mit zweighaften Krummholzbüschen [10] bewachsenen Sattel erreicht, im Osten stiegen die Häupter des Allgäuer Zentralkammes empor, voran der Biberkopf, ein kühn geschwungener, abgestumpfter Kegel, zu seiner Linken in verworrenen Klumpen die Zacken der Rappenköpfe, der Rotgundspitz, der Hochalpferner-Gruppe mit dem Hohen Licht, der Mädelegabel und ihres nördlichen Vorpostens, der Trettachspitze, die einem Zeigefinger gleich zur schwindelnden Höhe weist: Dort hinauf! – wenn du kannst !! – Tief unten das Rappenalpental, dessen Alpweiden in der Talung des Haldenwang bis auf den Scheitel des wasserteilenden Gebirges heraufreichen, während eine düstere Felsenmauer seinen südlichen Hintergrund absperrt, um deren Strebepfeiler der gesprengte Weg zum Schrofenpaß hinan kühn seine weißen Schlangenwindungen beschreibt.
 

Das Geishorn, welches mir gar zu unbedeutend erschien, ließ ich beiseite und trat sofort auf die Ostseite des Walserkammes über. Nicht allein in der Ferne, sondern auch in meiner nächsten Umgebung hatte eine neue Welt sich aufgetan; eine flache, hügelige Karmulde, aus welcher die östliche Flanke des Gipfels, in dessen Umgehung ich begriffen war, schroff emporsteigt, nahm mich auf. Statt des Liechelkopfes, den ich zu sehen erwartete, blickte ein zackiger Felsrücken von unbekannter Gestalt mir entgegen, durch einen ziemlich hohen Geröllsattel mit den Wänden des Geishorns verbunden. Es bedurfte nur geringen Nachdenkens, um Klarheit über die Situation zu erlangen; augenscheinlich hatte ich einen Zweiggrat, von dessen Existenz bis dahin keine Kenntnis mir geworden war, im Nordosten vor mir, und wohl mochte die hochgelegene Scharte am sichersten und kürzesten in ein jenseitiges Kar und an den Fuß des Liechelkopfes mich hinüberleiten. Ich hielt mich daher, die Schuttreißen [11] längs der Steilwände hin queren, in möglichst gleicher Höhe und stieg über rauhen, steinigen Boden hinauf zum Tore, das zwischen den Felsenzacken sich mir eröffnete.
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Bezüglich des Überganges fand ich mich nun allerdings nicht getäuscht, wenngleich unerwartet steil das Gehänge vor meinen Füßen sich abdachte; um so überraschender waren mit die Bilder, welche die neugewonnene Scheitelhöhe im Norden mir erschloß. Zwar hatte ich nun den Gesuchten, den Liechelkopf, im Nordwesten vor mir, an seine rechte Seite aber war ein mächtig hohes, schwarzgraues Felsengerüste getreten, zerspalten bis ins Innerste seines zähnestarrenden Leibes, mit zahllosen Türmchen und Spitzzacken auf seinem Scheitel gekrönt – einem zerschossenen Festungswerke in mancher Beziehung ähnlicher als einem Berggipfel. Das also mußte der Angererkopf sein. – Sollten Karten und Panoramen doch recht behalten, auf welchen eben der Angererkopf als Repräsentant jenes Gebirgsteiles sich verzeichnet findet, während des Liechelkopfs und Elferkopfes mit keiner Silbe Erwähnung geschieht? Und wo versteckt sich denn dieser dominierende Gipfelpunkt, daß aus dem Verlande kein Blick zu ihm dringen vermag? – Beim ursprünglichen Plane, den Liechelkopf zu ersteigen, muß es für heute wohl sein Verbleiben haben, schon des Überganges auf den Elferkopf wegen; aber ich fürchte, dort steht mir eine gewaltige Enttäuschung bevor.

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Unter solchen Gedanken bereitete ich mich zum Abstiege in die Tiefe, die neu vor meinen Schritten aufgähnt: ein weites Kar, in welches Trümmerströme, durch zackige Felsgriffe eingedämmt, von allen Seiten sich herabgießen, das bald zu einem Schuttboden sich verflacht, bald schluchtartig sich zusammenschnürt, in tieferer Gebirgszone zu einer mäßig breiten, mit Grasplätzen ausgelegten Sinke (das Mahdertal) sich umgestaltet und in den Steilhängen gegen das Rappenalpental allmählich sich verliert. Von meiner Scharte in gerader Querlinie nach dem um weniges höheren Grateinschnitte südlich des Liechelkopfes hinüberzugehen, war der weit hinabgreifenden, zackigen Absenker der Steilwände wegen leider nicht tunlich, und sah ich mich abermals zum Aufgeben eines beträchtlichen Stückes Höhe genötigt. Abwärts ging’s mit Benutzung einer steilen Schneelehne wohl rasch genug, um so langsamer und mühseliger hinauf über das haltlose Gerölle, das in der Nähe des Sattels bei unangenehm gesteigertem Neigungswinkel einem gar feinen, fest zusammengebackenen und mit leichter, rollender Oberschicht bedeckten Grieße Platz machte. Hart an den Fuß der Felsmauern gehalten und die Unsicherheit des Trittes durch Zugreifen mit den Händen ausgleichend, bewerkstelligte ich nicht ohne Anstrengung den letzten Anstieg und trat in die schmale Pforte ein, über welcher der letzte der scharfen, wunderlich gestalteten Zacken im Nordgrate des Geishorns einsturzdrohend sich aufkrümmt. Wenige Schritte, die, ich gestehe es, nicht ohne besorgte Eile getan wurden, brachten mich aus dem Bereiche des plumpen Damoklesschwertes hinweg, das ich bei einem späteren Besuche, nach einem Zeitraume von nicht weniger als vier Jahren, gleichwohl noch in unveränderter Stellung erblickte. Man möchte, sieht man nach langjähriger Abwesenheit aus einem wohlbekannten Gebirge all diese feinen, nadelscharfen Spitzen, die zierlichen Gratzacken und gebogenen Häkchen in bester Ordnung noch an ihrer Stelle, beinahe in Zweifel geraten über die langsame Zerstörung und Abtragung der Gebirge; und doch zeugt jeder Trümmerboden, zeugt jedes Kar mit seinen Milliarden Wagenlasten zerriebenen Gesteins für die nivellierende [12] Tätigkeit der atmosphärischen Einflüsse. Die gewaltige Masse der Gebirge nur wird durch die dauerhafte im Laufe langer Jahre scheinbar so gänzlich unveränderte Gestaltung auch ihrer zartesten Gebilde versinnlicht; die gleichwohl alle, Herrscher wie Trabanten, einem unwendbaren Geschicke verfallen sind.
 

Liechelkopf und Elfer vom Kemptner Köpfl aus gesehen Ich sah nun wieder gen Westen hinab ins Gemsteltal, das ich in nächtlichem Dunkel verlassen hatte. Weit dehnte sich vor mir das Schönisbodenkar, eingemauert von der Nordflanke des Geishorns, tief unter seinen Schutthalden erschien die Wiesenterrasse der Schönisboden-Alpe; ein geradliniger Abstieg hätte mich ohne Schwierigkeit zu ihr hinunter und ans Ufer des Gemstelbaches zurückgeführt – doch gingen die Pläne weiter, höher. Endlich nach vier Stunden strengen Bergmarsches hatte ich den Punkt gewonnen, der vom Widdersteine aus, über die Tiefe des engen Tales hinweg, so nahe und schnell erreichbar mir geschienen; vor mir hebt sich der blendend weiße Schuttabhang des Liechelkopfes zur Gipfelhöhe – bin wohl neugierig, was hinter dieser steckt! Strecke um Strecke des einförmigen Terrains bleibt hinter mir zurück, und immer neue Flächen erscheinen dem aufwärtsgekehrten Blicke. Diesmal murre ich nicht über erfahrene Enttäuschung; je länger das Ziel vor mir zurückweicht, um so höher muß es ja sein, und wer weiß, ob der verdächtigen Felsenruine im Nordosten nicht doch noch das Rivalisieren verleidet wird! Bei erster Gelegenheit lenke ich den Schritt auf die Gratkante hinaus: - ei, sieh da, der gestrenge Herr macht bereits einen krummen Buckel, fast schon aus gleichem Niveau blicke ich auf seine Gratzinnen hinüber und meines Gipfels Haupt liegt noch ansehnliche weit! Ein zweites Mal betrachtet, hat sich der Angererkopf bereits aus dem Kreise der wortführenden Bergpotentaten [13] verabschiedet, und wie ich nach dreiviertelstündigem Anstiege von der Scharte herauf den geröllbedeckten, noch mit einigen Graspäckchen besetzten Kuppenscheitel betrete, muß ich den vermeintlichen Rivalen fast suchen unter der Menge umherstehender Gipfelzacken zweiten und dritten Ranges!

Hinunter stürzen die Steilwände von allen Seiten zum Wildenkar, dessen öde Schuttbecken talartig sich hinausziehen zu den hügeligen Gründen der Wilden-Alpe am Fuße der Schafalpenköpfe, zum Aufschlusse des weiten Gebirgskessels gegen Mittelberg. Im Norden aber steigt über grünem, steilflankigem Grate ein höherer Gipfel empor als der meinige – dort freilich durfte ich einen Kulminationspunkt (siehe Glossary [7] ) erwarten- , und der dort steht, wird auch heute noch mein!

Ich widmete eine halbe Stunde der Rast und Umschau; die ungetrübte Helle des Morgenhimmels war freilich seit Stunden bereits ziemlich starken Wolkenscharen gewichen, die im Luftkreise sich herumtummelten, da und dort einen rasch verfliegenden Regenschauer niedersendend; doch lag eben in diesem Charakter der Witterung einige Garantie gegen gänzliche Wendung zum Schlimmen, und eine ausgedehnt Fernsicht, wie ich vom Widdersteine sie genossen, brauchte ich ja auf diesen Gipfeln nicht zu beanspruchen. Gegen die zweite Nachmittagsstunde verabschiedete ich mich vom Liechelkopf, und trat meine dritte, letzte Ersteigung des Tages an.
 

Daß auf dem Grate nur schwer durchzukommen, sah ich deutlich genug; von einem Betreten der Ostseite des Gebirges, an welcher lotrecht die Wände zum Wildenkar niederstürzen, war ohnehin keine Rede; meine Marschlinie mußte die begraste, aber steile und von zahllosen Gräben durchschnittene Westflanke durchqueren und an dieser bis zu ziemlich beträchtlicher Tiefe sich herablassen, denn in der Gratnähe wehrte eine schroffige Zweigrippe einer noch schrofferen Aufgipfelung des Bergscheitels jeden Übergang. Vom Liechelkopfe gegen Westen absteigend, suchte ich nach einem Auswege nach der rechten Seite, auf die Grasplätze des breiten Gehänges hinüber. Noch hatte ich den harten, stufigen Dolomitfels der Allgäuer Hochgebirge unter den Füßen, aber auch dieser begann eine unwillkommene, ihm sonst fremde Eigentümlichkeit zu zeigen: ausgebauchte Plattenschichten schoben steiler und immer steiler sich übereinander, und das Hinabkletterns in der geröllführenden Runse, die meinen Rekognoszierungsgang [14] leitete, wäre vermutlich bis an den Fuß des Gipfelkegels kein Ende gewesen, hätte ich nicht rasch entschlossen umgekehrt und eine Stelle, die ich im Vorübergehen bereits beobachtet, aber für allzu schwierig angesehen hatte, wieder aufgesucht. In dem Bewußtsein, hier meinen nächsten und besten Ausweg zu finden, wurde sie denn auch ohne große Fährlichkeit bewältigt, nach wenigen Minuten verließ ich Fels und Gerölle und betrat wieder grünen Grasteppich. Unter gewöhnlichen Umständen wäre dies sicherlich höchst angenehm gewesen, - aber ich befand mich ja im Allgäu, im Gebiete der weichen, vegetationsreichen, aber auch in außerordentlicher Steilheit der Abhänge sich gefallenden Schiefergesteine, welche vom Allgäu sogar ihre geologische Benennung herleiten ("Allgäuschiefer" = Oberer Lias der Alpen). Mit einem Wort, ich hatte die „Graslahne“ in optima forma (= in bester Form) vor mir.

Dafür sind Steigeisen gut! – Ach wenn ich sie doch schon hätte! – Aber leider sind diese segensreichen Instrumente (deren Bedeutung ich im Allgäu erst kennen gelernt, an der Höfats mittelst eines geliehenen Paares bereits erprobt hatte) noch in Arbeit beim Oberstdorfer Schlosser – ich dachte, ihrer nicht zu bedürfen auf den rauhen Zacken der Walser Kerle. Nun mußte ich wohl oder überl mich ohne sie behalfen, und ich behalf mich auch – aber wie manchen Umweg, wie manchen zaghaften Tritt hätten sie mir erspart, wie sehr die Schnelligkeit des Vorwärtskommens gefördert!

Ein Grasstreif um den andern blieb hinter mir zurück, ein halbes Dutzend der gelb- oder graulettigen, wie mit einem breiten Messer in butterweiche Masse eingeschnittenen Gräben war übersetzt, aber wenig Annäherung an das Ziel noch zu bemerken; das Gehänge, welches aus der Vogelperspektive so ebenflächig mir erschienen war, zeigte sich zu einer Menge von niedrigen, langgestreckten Bergrippen aufgelöst, und so geringe relative Höhe dieselben auch besaßen, so lag doch die Befürchtung nahe genug, jenseits der grünen Sättelchen, von zierlichen Felsköpfchen balkonartig eingesäumt, auf abstürzende, vielleicht unübersteigbare Wandstufen zu treffen. Der starre, tief braunrot gefärbte Doppelkegel auf dem Grat, hinter welchem der Elferkopf längst seine flache Kuppe zurückgezogen hatte, sah drohend aus seiner Höhe auf den Ankömmling herab, und verlegte mit seinem weit vorgestreckten Absenker ihm neuerdings den Weg. Ein stärkerer Steilabsatz, als bis dahin, bildete die Kehrseite dieser aussichtsdeckenden Terrainwelle und den Mauerdamm gegen die trümmererfüllte Runse eines jetzt trocken liegenden Wildwassers; schmale Linien vereinzelter Rasenpäcke leiteten auch dort hinunter, und nun ich den Weg nach dem Gipfel frei wußte, durfte ich darauf bedacht sein, die verlorene Höhe wieder einzubringen. Längs der rötlichen, stellenweise gelbgestreiften Felsen, der nämlichen Hornsteinkalkschicht angehörig, welche die Sohle des Gemsteltales mit ihren Trümmern erfüllt, näherte ich mich in steilem Aufstiege wieder dem Grat. Die stark abschüssige Wiesenmulde zu meiner Linken war noch vom Neuschnee, welchen die vergangene Woche über das Gebirge gebracht hatte, bedeckt, ich vermied daher vorläufig, sie zu betreten, und querte sie erst in höherer Lage. Nach Überwindung einer letzten, ganz unerwartet mitten in der Bergflanke auftretenden Mauerstufe wurde der noch großenteils mit Schnee überkleidete Südwesthang des Gipfels [ Elferkopf ] und wenige Minuten später das Signal auf seinem Scheitel erreicht. Der Übergang vom Liechelkopf bis hierher hatte nahe an zwei Stunden in Anspruch genommen.

Wieder lag das Wildenkar zu meinen Füßen; Steilwände von mehr als tausend Fuß Höhe stürzen auf die Schutthalden desselben hinunter und stechen in ihrem düster braunen Gewande scharf gegen die weißen Geröllflächen ab. Im Nordosten stehen die Schafalpenköpfe, wildzackige, zerklüftete Felsenburgen; ihre Trümmerergüsse verschmelzen mit dem Wildenkar zu einem einzigen weiten Kesseltale verwitterten Gesteins, welches in tiefer Zone erst mit grünem Kleide sich überzieht; dort liegen auf hügeliger Terrassenstufe die Hintere und die Vordere Wilden-Alpe, und über den abbrechenden Felsenrand springt der Wildenbach in Schaum erstäubend hinab und sucht durch die Weidegründe des tiefen Talgrundes seinen Ausweg zur Breitach. Weit offen liegt im Norden das Illertal und das flache Land; bildet doch das Pseudo-Geishorn eines der häufigst ersichtlichen und erkennbaren Objekte im Panorama Oberschwabens. Verdüsterte auch manches Gewölk, mancher graue Regenschleier mir den Ausblick, die freien Partien traten in rasch wechselnder Beleuchtung nur mu so lebhafter hervor, und heller Sonnenschein war allseits im Gefolge der umherziehenden Gewitter.

Doch die Zeit drängte zum Abstieg. In gerade Linie steuerte ich über die grünen Berglehnen hinab zur Alpe Schönisboden, und wenn auch auf dieser Strecke Steigeisen zum mindesten ein großer Vorteil der Bequemlichkeit gewesen wären, so erwies sich dies Terrain doch weit besser gangbar als die lettigen Gräben nahe dem Gratscheitel.
Nach einer Stunde hatte ich die Bergterrasse mit den niedrigen, nur wenige Wochen während des Hochsommers bezogenen Alpen erreicht. Eine weitere halbe Stunde brachte mich über die unterste Bergstufe zutal und längs des Gemstelbaches zur Hinteren Gemstel-Alpe zurück, an welcher ich gegen sieben Uhr abends den Kreis des siebzehnstündigen Tagemarsches schloß. Wieder saßen die Stickerinnen über ihrer Arbeit und die männliche Hüttenbevölkerung schleppte das Ergebnis der Abendmelke in großen Kübeln zum Käsekessel herbei. Verwundert hörten sie aus meinem Munde, wohin ich ausgegangen, welche Höhen ich besucht, aus welcher Richtung ich zu ihnen zurückkehre. "Der Herr kennt sich in’ Bergen gar besser aus, als wir selber“, meinte einer der Melker, und ich erlaubte mir, innerlich seinem Ausspruche in vollstem Umfange zuzustimmen. -
 

Die Schafalpenköfpe, diese eigentlichen Repräsentanten der Walser Kerle, warem zum Zielpunkte des folgenden Tages ausersehen. Nicht ganz so früh wie in der vorverflossenen Nacht, aber immerhin noch vor Sonnenaufgang, verließ ich zum zweiten Male die gastliche Hütte und stieg den Saumweg gegen den Gemstelpaß hinan; anstatt jedoch bis zum Gebirgsscheitel am Fuße des Widderstein ihn zu verfolgen, bog ich bereits in halber Höhe, auf der Oberen Gemstel-Alpe, links ab und wanderte in gerader Richtung gegen den Haldenwangrücken hinan. Der Weg führte mich durch eine steinige, schwachsteigende Talung – an der zweiten Hütte der Oberen Gemstel-Alpe vorüber – in einer starken Stunde auf den gleichen Höhenpunkt am Südfuße des Geishorns, welchen ich gestern mit ungleich größerer Anstrengung über das Hügelland des "Koblad" gewonnen hatte.
Der Besuch des Lichelkopfes hatte mich indessen auch überzeugt, daß das Geishorn zwar niedriger als die beiden Gipfel in nördlicher Fortsetzung des Kammes, aber doch nicht so ganz unbedeutend sei, als ich annahm, und ich benutzte nicht ungerne die Gelegenheit, welche mich zum zweiten Male in seine Nähe führte, dazu, die Versäumnis des ihm gebührenden Besuches nachzuholen. Ein höchst langweiliger, durch seine Eintönigkeit fühlbar ermüdender Anstieg über ebenflächiges, steiniges Grasgehänge ließ mich nach mehr als einstündiger Erwartung, Enttäuschung und Plage den langgestreckten, gegen Westen sanft niedersinkenden Scheitel erreichen. Ein großer Steinsockel bezeichnet den Platz, wo einstmals ein Vermessungssignal gestanden – oder vielleicht erst hätte aufgepflanzt werden sollen; eine weitere Spur davon ist nirgends zu erblicken. Vielleicht ist es über die Wände ins Schönisbodenkar hinuntergestürzt. Denn so flach und einförmig die Bergflanke gegen Süden sich dehnt und absenkt, so wildschroff baut sie von der Nordseite sich empor; auf dem Saume des begrünten Gipfelscheitels wie auf einer Rasenbank sitzend, konnte ich die Füße gemütlich hinabhängen lassen über die schwarzen Dolomitwände, die – aus Tausenden von zackigen Säulen zusammengefügt – ihren Trümmerschutt durch finstere Kluftkanäle zutal entleeren, in deren Winkeln die Reste der Frühjahrslawinen sich angestopft haben.

Weiteres Interesse als dieses immerhin bemerkenswerte Detailbild vermochte nach meinen gestrigen Wanderungen das Geishorn mir nicht mehr zu bieten. Ich verabschiedete mich daher bald wieder von seiner Höhe, verfolgte den Südabhang zurück, bis sich ein praktikabler Abstieg nach dem Kar an seinem Ostfuße ergab, querte das letztere nach der Übergangsscharte wie tags vorher und fuhr per Schneepost hinunter ins Mahdertal. Hier erst trat ich in eine neue Gegend ein.
 

Krummholzüberhangene Felsstufen standen meinem sofortigen Übergange auf die entgegengesetzte Talseite im Wege, ich verfolgte die Sohle, welche bald Spuren eines rauhen, holperigen Pfades zeigte, bald wieder das Schuttbett des Bächleins als einzigen Leitfaden übrig ließ, ziemlich weit hinab, ersah dann ein schwach ausgeprägtes Steiglein, welches die Hügelterrassen sich hinanschlängelte, und erhob mich nun langsam wieder bis über die Region der Legföhre.

Das Terrain meiner Umgebung weitete und verflachte scih allmählich zu einem welligen, ziemlich grasreichen Hochplateau, ähnlich dem "Koblad" an der Südgrenze des Gemsteltales. Zur Rechten senkte das Gehänge sich steiler und steiler und entzog seine weitere Fortsetzung in nicht gar großer Entfernung den Blicken. Zur Linken verliefen sich die Grashügel in vegetationslose Schuttkare, von schrofigen Felsen umrandet, die Gipfel des Grates hatten sich gedrückt und waren nicht mit Sicherheit mehr zu erkennen. Ich befand mich auf dem sogenannten "Taufersberge", dessen langgestreckte Terrasse nur Schafherden und in einzelnen günstigeren Lagen dem Jungvieh genügende Weide bietet – d.h. genügend im Sinne des Allgäuers, der etwas wählerisch ist in dem Grünfutter, das in Gestalt seiner fetten Käse die weite Welt zu durchwandern bestimmt ist. Mein Weg hielt sich fortan in ziemlich gleicher Höhe, doch hatte ich wenig Vorteil von seinem horizontalen Laufe, da die Unebenheit des Terrassenbodens ein unausgesetztes, wenn auch nur mäßiges Auf- und Absteigen erheischte. Der Angererkopf, von welchem ich nicht viel mehr als ein ruinenartiges Gemäuer zu sehen bekommen hatte, war bereits hinter mir zurückgeblieben, dagegen erkannte ich das Kemptner Köpfl [15] leicht wieder an seinem regelmäßig pyramidalen, gründen Abhange und der kahlen Felsenkrone auf seinem Haupte. Im weitern Vordringen gegen Norden deckten mir wieder benachbarte Terrainwellen den Ausblick nach dem Grate, von welchem nur hier und da ein felsiger Gipfel sich sehen, doch offene Frage bezüglich seines Ranges ließ. Der topographischen Orientierung zufolge mußte ich jedoch am Fuße der Schafalpenköpfe mich befinden.

 antike Ansichtskarte mit Blick zu den Schafalpenköpfen Es lag keineswegs in meinem Sinne, diese nahe aneinandergerückten Felsenhäupter alle drei zu ersteigen, da, abgesehen von der Zwecklosigkeit solchen Beginnens, auch die Zeit kaum dazu hingereicht haben würde. Der äußerste, nördlichste der Schafalpenköpfe sollte mir für die ganze Gruppe genügen. Doch suchte ich vergebens nach einem Anhaltspunkte, ihn von der Gegenseite wieder zu erkennen; alles war hier verändert, mir fremd, und leicht mochte ich besorgen, bei allzu langem Zögern mit dem Anstiege an den Schafalpenköpfen vorbei und auf einen der Griesgundköpfe zu geraten. Und so wandte ich mich denn, als ein ziemlich mächtiger, steilwandiger Zweigkamm mir das Gehänge sperrte und einen Abschluß der Gipfelgruppe auf dem Grate anzudeuten schien, als hinter mir ein Kegel mit senkrechter, auffallend gelbgestreifter Nordwand sich zeigte, den ich als den Mittleren Schafalpenkopf betrachten zu dürfen glaubte, auf gut Glück zur Höhe. Über einen ziemlich steilen, begrasten Felsabsatz stieg ich in ein geräumiges, von hohen Mauern umschlossenes und mit schmaler Geröllscharte den Grat berührendes Trümmerkar empor. Immer in der Meinung, den Mittleren Schafalpenkopf zur Linken, und den Äußeren, höchsten, nördlich von mir zu haben, suchte ich dort nach einem Aufstiege durch die kahlen Schrofenmassen; mehrfach in dieselben eingerissene Trümmergräben in Verbindung mit der rauhen, stufenreichen Beschaffenheit des Gesteins ließen trotz beträchtlichen Neigungswinkels diese Aufgabe ohne allzugroße Schwierigkeiten lösen.
Aus der engen Schlucht wieder ins Freie austretend, sah ich mich auf dem Scheitel des Bergrückens, einem sanft geneigten, die ganze Südostflanke einnehmenden, noch etwas Graswuchs nährenden Hochplateau, mir zu Füßen im Norden ein neues Kar, gegenüber eine neue Wand und einen neuen Gipfel. Es war mir nun klar genug, daß es der Mittlere Schafalpenkopf sei, welchen ich erstieg; doch einmal nahe an seiner Spitze, mochte ich nicht umkehren, ohne dieselbe betreten zu haben. Etwas länger, als ich gedacht, ging’s über die gedehnte Fläche bergan; nachdem der Innere Schafalpenkopf [16], den ich nunmehr als Eigentümer der gelbbestreifen Steilwand erkennen mußte, bereits unter mein Niveau gesunken war, erreichte ich die süd-nördlich streichende Gratkante und gleich darauf (eine Stunde nach Beginn des Anstiegs) deren nördlichsten Eckpunkt, ein geröllbedecktes, rundes Köpfchen. Zu meinem Erstaunen fand ich mich hier nicht auf dem Gipfel.
Felsengebilde auf dem Mindelheimer Klettersteig Nordwestlich vorgestreckt erhob sich eine dünne Mauer, sägenartig mit scharfen Felsspitzen besetzt, noch um ein paar Klafter höher. Ich stieg in die Scharte hinab, die von jenem eigentümlichen Gebilde mich trennte, ließ Gepäck und Bergstock in ihr zurück, kletterte vierfüßig auf die Schneide und bis zum zweiten Zacken derselben vorwärts. Es mögen ihrer zehn bis zwölf sein. Dem Augenmaße nach befand ich mich auf dem höchsten und überragte, aufrecht stehend, sie alle unzweifelhaft; der Unterschied zwischen den einzelnen wäre wohl nur nach Zollen zu bemessen.
Auf dem nur einige Quadratfuß großen Gipfelraume nahm ich Platz, sah über die senkrechten, von mächtigen Klüften durchsetzten Mauern hinunter in die Kare des Wildentals, und weiter hinaus nach Mittelberg, nach Baad, über den Ifen und Diedamskopf hinweg auf die grünen Höhenzüge des Bregenzer Waldes, an denen wieder regenspendende Gewölke, dicht geschlossener als tags zuvor, hin und her zogen.
Aber der Nördliche Schafalpenkopf, den ich gewollte, den ich seines unverkennbaren Vorranges halber auch noch besuchen mußte, er verursachte mir Kopfzerbrechen. Da stand er als langgestreckte, pralle Mauer vor mir, kein Riß kein schrüg an sie glehnter Vorbau zu entdecken, der zu ihrer Höhe den Weg bahnen möchte. Aus dem Kar zwischen ihm und meinem Gipfel, das breit und flach seine Gerölle bis zum ausgebuchteten Gebirgskamme hinanstreckt, wäre es wohl leicht, auf den Grat südwestlich des Gipfels zu gelangen, aber die abgerissenen Zacken dieser Schneide bilden ebenso viele Fragezeichen auf diesem Wege, und ein fast senkrechter Absatz auf ihr ist wohl weniger als Fragezeichen, denn als entschiedene Grenzmark der Gangbarkeit zu betrachten. Soweit sichtbar also: keine Ersteigung denkbar! Die Hoffnung ruht auf einer Umgehung. Ich liebe sie nicht sonderlich, diese Hoffnungen.
 

In sehr gedrückter Stimmung begann ich den Abstieg ins Wildental. Steil ging’s über die Schrofen, über ein Haufwerk gewaltiger Blöcke vom Grate hinunter an die Schneehänge. Noch einmal sah ich ins Gewände des Schafalpenkopfes hinein – umsonst, ich mußte mich von ihm losreißen!.
Die eilende Rutschfahrt über den Fidere-Sattel setzte den Experimenten des Tages ein rasches, aber keineswegs befriedigendes Ziel.
Ein leichtgeneigtes, wellenförmiges Plateau breitete vor mir sich hinaus gegen Westen. Am Rande angelangt, gewahrte ich zu Füßen einer hohen, übergrünten Bergstufe die Vordere Wilden-Alpe; dort hinab führt mich der Pfad. Eine Stunde nach Verlassen des Fidere-Sattels trat ich in die Hütte ein, meldete mich zum Nachtquartier und begann auch sofort, die Hirten des Schafalpenkopfes wegen zu interpellieren [17]. Sie bestätigten mir einmütig, daß man auf denselben ganz wohl hinaufkomme, von der Wildental- wie von der Taufersbergseite – leider aber war eine genaue Angabe, von wo aus der eigentliche Gipfel in Angriff zu nehmen sei, von ihnen nicht zu erhalten; mit der Beschreibung des Anstieges durch das „Ochsenloch“ (ein felsiger Bergkessel zwischen kurzen westlichen Abzweigungen des Äußeren und Mittleren Schafalpenkopfes), welches von der Alpe aus gesehen werden konnte, war der Schatz ihrer Beredsamkeit erschöpft. Ich sah mich wieder auf eigene Augen angewiesen und glaubte ich auch in dieser Beziehung das Möglichste bereits getan zu haben, so blieb mir doch nichts andere übrig, als den hoffnungslosen Versuch am folgenden Tage zu wiederholen.
 

Aber dieser Tag brachte Nebelgrau und Regenwetter. Durchs Wildental hinaus ging die Wanderung nach Mittelberg und ins Walsertal zurück. Bei Hirschegg angelangt, sah ich mich durch eine trügerische Aufhellung zu einem anderen Bergprojekte verleitet und lenkte westlich ab, ins Tal von Ifertsgund.
In strömendem Regen stand ich gegen die Mittagsstunde auf dem Gipfel des Hohen Ifen, kehrte von ihm nach Riezlern und Oberstdorf zurück. -
Auf lange Wochen blieb der Schafalpenkopf zurückgestellt. Bergfahrten im Trettach- und Ostrach-Gebiete, im Zentralkamme der Allgäuer Alpen nahmen meine freie Zeit in Anspruch. Gar manchesmal erschaute ich von ihren Gipfelhöhen das feine Felsspitzchen, proteusartig [18]seine Gestalt wechselnd – eine schartige Zinne, ein geradliniger Obelisk, ein gekrümmter Finger – je nachdem der Standpunkt der Beobachtung sich änderte. Vergessen war er nicht!
 

Am hellen Morgen des 8. September beförderte der langweilige Postomnibus mich nach Oberstdorf. Gemächlich spazierte ich durch die Talweide, über die Wiesenterrassen hinauf zum stillen Freiberger See. Dort ereilte ich eine Turistengesellschaft, die scheltend vor der leeren Bretterbude stand, welche die Restauration am Freiberger See vorstellen sollte. Die Inhaber waren des Festtags halber in Oberstdorf zur Kirche gegangen und im Verlaufe des Vormittags war Labung hier nicht mehr zu hoffen. So übernahm denn ich die provisorische Geschäftsausübung, und meine alsbald in Aktivität versetzte Kaffeemaschine – allerdings nur schwarzen Mokka bereitend – erntete Dank und Anerkennung.
Nach einem Stündchen heitern Aufenthalts brach ich auf zu ernsterem Tagewerke.

Fidere-Scharte von der Fiderepaß-Hütte aus gesehen - dort kam Barth aus dem Warmatsgund herauf Über die Bergdörfer Schwand, Ringgang und Leitern verfolgte ich den holperigen Karrenweg ins Warmatsgundtal hinauf; die Schlucht des Warmatsgundbaches, die weiten Talwiesen der Galtalpe Warmatsgund, westlich überragt von den grünen Rasenflanken des Fellhorns, die Terrassenstufe, welche von den Katzenköpfen zu den Griesgundköpfen sich hinüberspannt, ließ ich im Rücken, durch die steinigen Mulden, über die Querdämme schwach begraster Felsenhügel hinweg, über Trümmerschutt und Schneereste nahte ich wieder der Sattelhöhe des Fidere, über welche – gewaltigen Warttürmen gleich – links der Große Schafalpenkopf, rechts der Hammerspitz vor mir emporstiegen.

heute ist an dieser Stelle der Einstieg in den Mindelheimer Klettersteig Ich hatte mich dahin entschlossen, die Nordwestseite des ersteren, bei deren Anblick ich meinen früheren Versuch als unausführbar aufgegeben hatte, gleichwohl allen Ernstes anzugreifen. Mochten diese düstern, zerissenen Mauern auch noch so abschreckend erscheinen, so zeigten sie doch mannigfache Abstufungen und Unterbrechungen, welche den übrigen Seiten dieses gepanzerten Gipfels vollständig zu fehlen schienen. Es war daher lediglich eine Forderung rationeller Berechnung, diese Seite zum Anstiege zu wählen. Vom Fidere-Sattel ging ich – ohne die Gratschneide, über welche ich das erstemal vom Taufersberge herübergekommen, zu berühren – die Reißen hinan bis in einen Winkel der umschließenden Wände, wo ich günstige Gelegenheit erspähte, über die unteren Steilstufen emporzuklettern.
 

Der Anfang gestaltete sich nicht ungünstig, abgesehen von der Steile des Felsabhanges, welcher den Karboden immer hart an meiner Seite zeigte, obwohl ich schon mehrmals turmhoch über denselben mich erhoben hatte. Als nun sogar die Stufen im Felsgesteine enger und spärlicher wurden, überhängig Wandabsätze das Gleichgewicht des Körpers zu stören drohten und hierbei namentlich der Rucksack durch unangenehmes Zerren nach der Seite des Absturzes hin sich bemerkbar machte, ließ ich das Gepäck, sowie den Bergstock, der ebenfalls mehr Hindernis als Vorteil bereitete, an geschützter Stelle zurück und bediente mich fortan einzig und allein meiner vier Gliedmaßen, deren menschliche Rangunterschiede aufgehört hatten zu existieren. Leichter, sicherer und rascher ging’s nun der Höhe zu; bald hatte ich die Wand verlassen, und bewegte mich wieder auf rauhem Geschröf, sah mich jedoch sehr ungerne von der gewünschten Schrägerichtung gegen rechts fortwährend abgedrängt, und nicht lange mehr, so stand ich auf dem Grat zwischen Taufersberg und Fidere-Sattel, ein paar hundert Schritte von der gut gangbaren Scharte desselben entfernt. Das hätte ich billiger haben können!

Mir gegenüber im Süden, nach wie vor, die starre Wand des Schafalpenkopfes! Es blieb nun nichts anderes mehr übrig, als eines ihrer schmalen Querbänder zu verfolgen und einem günstigen Zufalle die Wahl zu überlassen. Bald stand ich wieder mitten im Felsgehänge, die aufstrebenden Mauern zur Linken, zur Rechten der Absturz, fast lotrecht auf die Trümmerfelder des Kars. Das feste Gestein hatte aufgehört, lettiges, abbröckelndes Geschiebe deckte das Band, das abschüssig, kaum schrittbreit, und in den Klüften meist ganz abgerissen, von Ecke zu Ecke sich wand. An manchen Stellen vermochte nur rasches Niederkauern und Zugreifen mit beiden Händen einen und den andern langen Schritt zu sichern. Einmal versuchte ich, durch gerades Aufklettern in einer Runse die scheinbar ganz nahe Grathöhe direkt zu forcieren, fand aber das Gestein zu haltlos, den Fallwinkel allzusteil und mußte davon absehen. Nachdem ich den problematischen Quergang noch eine Weile fortgesetzt, sah ich den südlichen Grat plötzlich ganz in meiner Nähe. Eine letzte Anstrengung im Erklimmen einer kurzen, steilwandigen Kluft half mir auf die Schneide; - aber sie da, just vor dem jähen Abbruche derselben, um dessenwillen ich die ganze tolle Kletterei in den Nordwänden unternommen, stand ich auf dem Grat – von Süden reichten die Reißen aus dem Kar zwischen dem Mittleren und Äußeren Schafalpenkopfe bis zu meinem Standpunkte herauf. Zum zweiten Male blickte ich verdutzt vor mich hin und sagte mir: Das hätte ich billiger haben können!

Und nun zu meiner Linken die fatale Gratstufe. Unersteigbar gilt nicht mehr; habe ich unverständigerweise gewagt, wo keine Veranlassung dazu vorlag, so kann ich wohl noch ein wenig wagen, wo’s den Gewinn des Zieles gilt. Mehr geturnt als gestiegen war es freilich, als ich – die Vorsprünge des Felsens erfassend – über den plumpen Sockel mich hinaufzuziehen begann, aber in anderthalb Klafter Höhe faßte ich auf schmalem Gesimse schon wieder Fuß, - ein Tritt um die Felsecke zur Linken, - die Hand fühlt jenseits des Riffs eine fest Habe, - ein leichter Schwung trägt über den Abgrund mich weg und stellt mich in eine enge Spalte mit brusthohen Stufen; - in der nächsten Minute war ich oben auf dem Grat.

Das Spiel war gewonnen; die Rückkehr - - - doch wer skrupulös an die Rückkehr dächte, würde manches Ziel nicht erreichen! Schmal, doch ohne Hindernis und leicht geneigt zieht der Grat gegen Osten empor. Links blicke ich die brüchigen Mauern fast senkrecht hinab – da herauf zu kommen, ging freilich nicht an! – rechts die Wände, die ihren Fuß ins nahe Kar stellen. Einzelne Kaminklüfte durchsetzen ihre starre Masse, sie werden zahlreicher, weiter, je näher ich dem Gipfel komme; schon steht dieser mir greifbar nahe vor Augen, nur noch eine kleine Einschartung des schneidigen Grats ist zu übersetzen, - da tut gegen Süden eine neue Kluft sich auf. Ich schaue hinab und kopfschüttelnd frage ich mich, ob nicht etwas ein Abstieg durch diese möglich wäre? Ein paar Schritte weiter, - abermals eine Kluft, noch breiter als die erste – wahrlich, der höchste Grad an Wahrscheinlichkeit mußte trügen, sollten hier unüberwindlicher Hindernisse sich bergen! – Wieder einige Schritte gegen den Gipfel hinan, ä eine dritte Kluft, ja besser gesagt, eine ganz nett Treppe, von Schrofenmauern eingefaßt, hinunter gegen das Kar, das mit langem Schuttstreif in deren Mündung sich hineinspitzt. – Da stehe ich auf dem Grat, und mein Gesicht wird fast so lang, wie der ganze Ausweg, der sich mir eröffnet, und ich reibe mir die Stirn; - das hätte ich billiger haben können!.

War ich denn aber blind gewesen auf dem Mittleren Schafalpenkopfe, hier unangreifbare Steilwand zu sehen? Mit nichten!
Die eigentümliche Bauart des Berges allein trägt die Schuld. Die Risse und Klüfte durchsetzen nicht in gerade Linie vom Grate herab die Wand, sie tiefen sich längs in ihrer Flanke in schiefer Richtung ab und sind gegen das Kar durch seitliche Felsblätter geschützt; so kommt es, daß im geraden Anblicke die ganze Wand prall, als eine ritzenlose, geschlossene Masse erscheint.
Immerhin hatte die gewaltige Enttäuschung ihre sehr angenehme Seite; die Frage des Rückweges war mit einem Male gelöst, und sorglos mochte ich, auf dem wenig Minuten darauf erreichten Gipfel gelagert, mich ausruhen, im Anblick der stolzen zinnen der Mädelegabel und der Hochalpferner-Gruppe, der weitgeöffneten Schneekessel des Bockkars und des Bacher Lochs.
 

Blick vom Mittleren Schafalpenkopf auf dem Mindelheimer Klettersteig hinunter zum Taufersberg Die Sonne stand bereits ziemlich tief am Himmel, vier Uhr nachmittags war vorüber; mehr als zwei Stunden hatte das anstrengende und bedenkliche Umherklettern in den Wänden gewährt. – Nach halbstündigem Aufenthalt trat ich den Rückweg an, durch die so unerwartet entdeckte Kluft ins Kar, durch letzteres hinab zum Taufersberg und nach Umgehung des östlich vorgestreckten Grates die hügelige Talung hinauf zur Übergangsscharte nach dem Fidere. Hier noch ein kurzer Abstecher in die Wände, das Gepäck und den Bergstock zu holen, und endlich in ordnungsgemäßer Ausrüstung hinab zum Fidere-Sattel.
 

Nach Oberstdorf zurückzukehren war es zu spät; die Sonne war gesunken und Dämmerung deckte die Täler. Doch mußte ich den Abstieg wenigstens teilweise noch in jener Richtung bewerkstelligen, um des andern Tages rechtzeitig in Sonthofen wieder einzutreffen. So wandte ich mich denn auf der alten Spur zurück, der Hirtenhütte in Warmatsgund zu. Hinter der Sattelhöhe des Fidere versanken die Berge des Gemseltales, deren hohe Gipfel noch im letzten Abendscheine glühten, die massigen Gestalten des Schafalpenkopfs und der Hammerspitze blickten düster mir nach auf meinem Wege.

Auf Wiedersehen, Walsertal! Gehabt euch wohl, ihr Walser Kerle!
 
Bemerkungen:
Online-Veröffentlichung der Erzählung „Die Walser Kerle“ aus dem „Alpenfreund“, Jahrgang 1874, veröffentlicht im Werk "Gesammelte Schriften" von Bünsch/Rohrer (1926) im Rahmen einer gemeinfreien Nutzung nach dem Urheberrecht.
Rechtschreibung, Zeichensetzung und Satzbau sind im originalen Zustand belassen worden. Als zusätzliches gestalterisches Mittel wurden aktuelle und teilweise auch historische Schwarz-Weiß-Aufnahmen in die ursprünglich unbebilderte Erzählung eingebaut. Die Aufnahmen sind zur Auflockerung des Textes gedacht und versuchen einen regionalen Bezug zur Erzählung herzustellen. Mit Ausnahme der Zeichnungen von Anton Waltenberger handelt es sich hierbei um keine überlieferten echten Bild- u. Zeitdokumente aus jener Zeit.
Zur besseren Einordnung abweichender geographischer Bezeichnungen und zum besseren Verständnis einiger von Barth benutzter und im heutigen Sprachgebrauch weithin unbekannter Ausdrücke wurden aktuelle "Bergnamen" ergänzt und gesonderte Fußnoten angebracht (Fußnoten werden auch beim Überfahren mit der Maus angezeigt) bzw. am Ende der Erzählung in einem Glossar zusammengefasst.

Zusätzlicher Hinweis: Die Aufarbeitung bzw. Bereitstellung dieses Dokumentes ist im Sinne der Verfügbarmachung eines alpinhistorischen literarischen Werkes zu verstehen. Die Tourenbeschreibung ersetzt keinesfalls aktuelle Bergführerliteratur.
 
Glossar:
[1] skrupulös: aus gleichbed. lat. scrupulosus; (veraltet) bedenkenvoll, ängstlich; peinlich genau (Quelle: duden.de) -->zurück
[2] *): Barth schreibt Fiderersattel. Ferner gebraucht er in diesem Aufsatze – außer dem schon erwähnten Genschle und Genschenpaß – abweichend von der neueren Namengebung: Liechlkopf für Liechelkopf, Zwölferkopf für Elferkopf und Zwölferkopf, Kempter Köpfl für Kemtpner Köpfl, Sellerkopf und Sellereck für Söllerkopf und –eck, Rietzlern für Riezlern, Bad für Baad, Braunorglenspitze für Braunarlspitze, Schönesboden für Schönisboden -->zurück
[3] Breitach: Die Breitach bildete bereits in alten Zeiten die Grenze des fürstbischöflichen augsburgerischen Gebietes Stepahns-Rettenberg (Sonthofen) und der Grafschaft Königsegg (Immenstadt) und wurde daher schon damals als der eigentliche Quellfluß der Iller angesehen -->zurück
[4] Flysch: aus Schichten von Sandstein, Mergel, Schieferton u. Kalk bestehendes Gestein -->zurück
[5] Kattun: Kattun (von arabisch katon, „Baumwolle“) ist ein glattes, leinwandartig gewebtes, ziemlich dichtes Baumwollzeug. Das einfarbige oder bedruckte Gewebe kann heute auch aus Chemiefasergarnen hergestellt sein. Weißer Kattun, zum Bedrucken bestimmt, bildet den Rohkattun. (Quelle: wikipedia.de) -->zurück
[6] Heuschupfen: Heuhütte, Heuschuppen auf einer Wiese (Quelle: http://oewb.retti.info) -->zurück
[7] kulminieren: [6] -->zurück
[8] Obelisk: Obelisk, ein aus dem Griechischen entlehntes Wort, das einen hohen vierkantigen, sich nach oben zu verdünnenden Stein, der ganz oben in einer kleinen Pyramide endet, bezeichnet -->zurück
[9] Koblad: Mit diesem Namen bezeichnet der Allgäuer durchweg die (in seinem Gebirge freilich nur selten und nur in geringer Ausdehnung auftretende) Formation welliger Hochflächen -->zurück
[10] Krummholz: Bezeichnung für in höheren Bergregionen wachsende Holzgewächse, deren Stämme oder Äste vielfältig gekrümmt sind (Meyers Lexikon online) bzw. eine Art Kiefer (Pinus montana Linn.), deren besonderer Wuchs darin besteht, dass der Stamm und die Zweige eigentlich nicht gerade in die Höhe gehen, sondern auf der Erde gedrückt und unordentlich, oft kreuzweise durcheinander laufen. Die Zweige kriechen wohl 20 bis 30 Fuß vertikal, alsdann aber richten sie sich pyramidenförmig auf, selten jedoch über 10 bis 15 Ellen. Ein mit ihnen besetzter Platz ist deswegen für Menschen beinahe undurchdringlich (Oekonomische Encyklopädie von J.G. Krünitz http://www.kruenitz1.uni-trier.de): Muster -->zurück
[11] Schuttreiße: eine Stelle, an der sich Felsgeröll sammelt und vom Berg heruntergeschafft wird -->zurück
[12] nivellieren: gleichmachen, ausgleichen, auf das gleiche Niveau bringen, Unterschiede beseitigen -->zurück
[13] Potentat: ein nur noch im gemeinen Leben übliches Wort, ein gekröntes Haupt zu bezeichnen. Ein großer Potentat. Es ist aus dem mittlern Lat. Potentatus, Franz. Potentat. Das deutsche Macht wird auf ähnliche Art gebraucht (Oekonomische Encyklopädie von J.G. Krünitz http://www.kruenitz1.uni-trier.de) -->zurück
[14] Rekognoszierung: Aufklärung, Beobachtung, Erkundung, Untersuchung -->zurück
[15] Kemptner Köpfl: Barth schreibt: Kempter Köpfl und bemerkt hierzu in Fußnote: So lautet ausnahmslos die Schreibart dieses Namens auf allen Karten. Meinen Erkundigungen zufolge hat derselbe aber mit der Stadt Kempten, die auch vom Gipfel kaum zu sehen sein wird, durchaus nichts gemein, leitet sich vielmehr von dem Felsenkamme ab, welcher den grünen Bergkessel so auffällig krönt; es wäre demzufolge wohl richtiger Kämmter oder Kämterköpfl zu schreiben. -->zurück
[16] Anmerkung Barth: Derselbe wäre ersteigbar von der Südseite längs des Grates, wo er fast durchweg Grasplätze besitzt, nur einmal eine Unterbrechung durch eine steile Abstufung zeigt. Der Umstand, daß auf ihm eine Signalstange sich befindet, deren die beiden anderen höheren Schafalpenköpfe entbehren, läßt auf geringere Schwierigkeiten dieser Ersteigung schließen. -->zurück
[17] interpellieren: mit Fragen angehen, unterbrechen, dazwischen reden (duden.de) -->zurück
[18] Proteus: Proteus bezeichnet eine Gestalt aus der griechischen Mythologie - er war wegen seiner Verwandlungsfähigkeit bekannt (er nahm verschiedene Gestalten an, um Fragen zu entkommen) (Quelle: wikipedia.de) -->zurück