Eine Nacht auf dem Hochvogel
von und mit Hermann von Barth (19./20. Juli 1869) veröffentlicht in den Werken "Einsame Bergfahrten" bzw. "Aus den Nördlichen Kalkalpen"

Hinweis: Die Aufarbeitung bzw. Bereitstellung dieses Dokumentes ist im Sinne der Verfügbarmachung eines alpinhistorischen literarischen Werkes zu verstehen. Die Tourenbeschreibung ersetzt keinesfalls aktuelle Bergführerliteratur.
 
 

Hermann von Barth Oft schon hatte ich von beherrschender Gipfelhöhe Sie erblickt, die unvergleichlich großartige Pyramide, mit ihrem schlanken Haupte, ihren regelmäßig gebauten Schultern, den Namen rechtfertigend, den Sie seit alten Zeiten führt; taucht Sie empor vor dem Wanderer inmitten des Kreises ihrer Felsentrabanten, so luftig klar, so kühn in den Himmel hineinstrebend, wohl möchte man besorgen, daß im nächsten Augenblicke der Riesenvogel seine Fittiche entfalten und sich aufschwingen werde in den blauen Äther. Und nur auf den freien Höhen der Berge wird der Besucher der Allgäuer Alpen dieses Anblickes gewürdigt; hartnäckig entzieht dieses ihr erhabenstes Bild sich den Augen des bequemen, an die Talstraße sich haltenden Touristen. Lange Wochen war der Hochvogel das Ziel meines Sinnens und Trachtens gewesen; lange hielt mich schlechte Witterung von ihm zurück. Auf die Regen- und Schneetage der zweiten Hälfte des Juni folgte anfangs Juli trockenes Wetter mit dem eigentümlichen Höhenrauche, der viele Tage hintereinander den Himmel bleigrau überzog und kaum die nächsten Gebirge in unbestimmten Linien durchschimmern ließ; einen Aussichtspunkt von dem Range des Hochvogel mochte ich unter diesen Umständen doch nicht besuchen, kam ihm während dieser Tage aber einmal sehr nahe; der 11. Juli sah mich im hintersten Oytale, auf dem Großen Wilden, dem Schnecken, dessen vielberufene Gefährlichkeit sich auf eine einfache Schwindelpassage reduzierte, worauf ich durchs Berggündele- [1] und Ostrachtal hinauswanderte, am gleichen Abende noch zur Oberen Taufersalpe am Wildsee [2] emporstieg, am 12. früh das Kugelhorn und Rauhhorn besuchte und mittags in Sonthofen wieder eintraf. Eine Woche später hatten die atmosphärischen Zustände sich noch keineswegs gebessert; am 18. wanderte ich ins Gunzesrieder Tal, stieg mit geringem Erfolge an Aussicht auf das Rindalpenhorn [3] und den Fanach [4] und kehrte über die Balderschwanger Berge nach Sonthofen zurück. Schwere Wolken hatten sich den Tag über längs des Hochgebirges zusammengeballt, nach Sonnenuntergang aber lüftete eine Schicht derselben nach der anderen sich zu immer zarteren, rosigen Flöckchen, und mit Eintritt völliger Dunkelheit spannte der herrlichste Sternenhimmel sein Zelt über das bergumschlossene Illertal.
 

Mit reinstem blauen Himmel brach der folgende Tag heran, die fernsten Gebirgsketten standen klar und scharf vor Augen, wie mit einem Zauberschlage war der bleierne Höhenrauch aus dem Tale verschwunden. Das war Hochvogel-Wetter; ich säumte auch nicht lange, die genagelten Schuhe [5] und den Bergstock hervorzuholen, den Rucksack zu packen und die erst neu erhaltenen Steigeisen daran zu schnüren. Im schnellsten Marschtempo ging’s ins Ostrachtal hinein über Hindelang nach Hinterstein, wo kurze Mittagsrast gehalten wurde. Bis hierher hatte lediglich die Ungeduld mich angetrieben; ich konnte es kaum erwarten, dem vielgenannten Gipfel nahe zu kommen, von dessen gefährlichen Absonderlichkeiten die Leute draußen so viel zu erzählen wußten. Die Scharte "Am Balken" [6], wo man auf die Schwarzwasserseite übertreten sollte, ein Weg, der mir in der pythischen [7] Ausdrucksweise beschrieben worden war, "man muß ihn eben genau kennen" – das Eisfeld, über welches man Stufen hauen müsse (ich glaubte es zwar nicht, hatte aber vorsichtshalber doch eine Hacke bei mir) – die Kluft, welche das Felsenmassiv des Gipfels mitten durchreiße und welche nur an einer einzigen Stelle durch einen gewagten Sprung übersetzt werden könne, - das waren lauter Dinge, die meine Neugierde in hohem Grade anregten und mit ungewohnter Hast meine Schritte vorwärtstrieben.
 

Während des frugalen [8] Mittagessens zu Hinterstein nun begann erst ruhigere Überlegung Platz zu greifen und aus dem bunten Wirrwarr der Gedanken, die im Kopfe hin und her schossen, ein fester Plan sich herauszukristallisieren. Wollte ich in ordnungsgemäßer Weise die Tour auf den Hochvogel in Ausführung bringen, d. h. auf der Berggündele-Alpe übernachten, wozu dann die Eile?
Aufstieg zum Hochvogel aus dem Bärgündele-Tal Dorthin hatte ich von Hinterstein aus noch 3 Stunden Weges, weiterhin gab es überhaupt keine Alpe mehr, wo ich hätte übernachten können. Aber ein Biwak unter freiem Himmel? Das ließe sich hören, und wenn’s denn unter freiem Himmel sein soll, je näher dem Gipfel um so lieber. Ich erinnerte mich, gehört zu haben, daß die österreichischen Ingenieure während der Gebirgsvermessungen ein paar Tage lang auf dem Hochvogel kampierten, eine Höhle unterhalb des Gipfels habe ihnen Zuflucht geboten. Nun, das konnte ich ebenfalls versuchen, und für eine Nacht ließ es sich wohl auch ohne Brennholz und sonstigem Apparat aushalten. Ich ging also auf nichts Geringeres aus, als noch am gleichen Tage, dessen späte Vormittagsstunden mich von Sonthofen hatten abziehen sehen, den Gipfel des Hochvogel zu erreichen; und der Zeitberechnung nach – 3 Stunden von Hinterstein zur Berggündele-Alp, von dort auf den Hochvogel 5 Stunden, von welchen ich eine abzustreichen mir erlaubte -, lag dies in der Tat nicht außerhalb des Möglichkeitsbereiches. So brach ich denn kurz nach 12 Uhr von Hinterstein wieder auf, marschierte an den Aueliswänden [9] und der Eisenbreche [10] vorüber, die Wiesengründe und Wälder des hinteren Ostrachtales entlang.

An den grünen Flanken des „Giebels“ hin, welcher die beiden Ursprungstäler der Ostrach – Berggündele und Obertalbach – scheidet, führte der Alpenweg mich hoch über der Klamm des Berggündele-Baches talein zur Bachalpe hinauf, in deren Nähe der 3000jährige Eibenbaum [11] sich befindet, dann über das Gewässer hinüber und schräg aufwärts zur unteren Hütte von Berggündele; sie war verschlossen. Ich hoffte, auf der oberen Hütte Leute zu treffen und eine letzte Erfrischung zu erhalten. Steil windet der Pfad über krummholzbehangene [12] Felsen sich empor; nach 20 Minuten hatte ich die Höhe der nächsten Terrassenstufe gewonnen, auf breitem, grünem Gehänge lag vor mir das ziemlich lückenhafte Zimmerwerk der Oberen Berggündele-Alpe. Leute traf ich dort an, auf Milch aber hatte ich vergebens gehofft, sie war bereits samt und sonders in den Käsekessel gewandert, und wollte ich mich nicht bis zur Abendmelke gedulden, so blieb weiter nichts übrig, als unter Verzicht auf Restauration [13] den Weg nach dem Hochvogel fortzusetzen. Ich entschied mich dann auch für letzteres.
 

Mit der Unteren und Oberen Berggündele-Alpe hatte ich bereits zwei Stufen der großen, in mehrfachen Terrassen sich aufbauenden Talmulde erstiegen, welche im Südosten des Berggündele-Tales bis ins Herz des Gebirges, an den Fuß der unmittelbarsten Nachbarn des Hochvogel, sich hineinzieht. Der Hauptgrat des Gebirges umschließt ihre innersten Kare. Der Hochvogel zählt nicht unter die Gipfel des Hauptkammes. Vom Kreuzspitz mit kurzem Grate südöstlich sich abzweigend, steht er völlig im Wassergebiete des Lech, und die, im östlichen Allgäu sonst ganz naturgemäße bayerisch-tirolische Grenze berührt diesen althergebrachten Grenzpunkt nur mit einer höchst unnatürlichen Ausspitzung. Blick über das Bärgündeletal auf den Großen Wilden, Himmelhorn und Schneck Von der Berggündeleshütte gehen nach der linken wie nach der rechten Seite deutlich sichtbare Pfade auseinander; der erstere führt nach den oberen Weideplätzen, dem sogenannten Glasfelde, an der Lerchwand [14], der letztere quer an der Bergflanke hin nach den inneren Alpenwiesen von Berggündele; der Anweisung des Sennen entsprechend ging ich mitten zwischen beiden Steigen hindurch, anfangs pfadlos, bald aber auf schwache Spuren von Fußtritten stoßend, welche im Krummholze zu einem schmalen, aber wohl ausgeprägten Steiglein sich sammelten. Ein neuer Terrassenrand wurde erstiegen; meine Hoffnung, hier bereits im oberen Kar und an dem kleinen See mich zu befinden, welcher bei der Hochvogel-Ersteigung berührt wird, fand sich getäuscht, eine neue, starke Bergstufe krummholzüberhangener Schrofen baute vor mir sich auf, aus ihrem eingeschnittenen Rande stürzt der Abfluß des Sees mit kräftigem Wasserfalle hervor. Ein Rückblick über das Berggündele-Tal zeigte mir die grünen Steilhänge seines westlichen Begrenzungskammes, Giebel und Rothtenne [15], den fingerhutartigen Gipfel des Schnecken, den Wilden mit Schneefeldern in seinem rauhen Geschröf [16].

Über dem Himmeleck, der tiefen Einsattelung zwischen den beiden letztgenannten Gipfeln, blieb ein Stück des westlichen Horizontes frei. Die Witterungsaussichten, welche dort sich eröffneten, waren nicht eben die günstigsten zu nennen; verdächtige weiße Streifen zogen in unablässiger Folge von dort heran, und wenn sie auch in der reineren Luft des Illertales sofort zu Flöckchen sich auflösten und verschwanden, so erhielten sie doch immer neuen Sukkurs [17] und begannen allmählich den Westhimmel ganz und gar für sich in Anspruch zu nehmen. Die Aussicht der Möglichkeit einer Witterungsänderung für den folgenden Tag aber trieb nur mit um so größerer Entschiedenheit und Eile mich dazu, noch am gleichen Abende den Gipfel zu gewinnen. Fast ohne Pfad stieg ich die folgende, großenteils mit lichtem Krummholze bewachsene Stufe hinan. An die rechte Seite trat mir allmählich der Wiedemer [18], ein dünner, vom Kreuzkopfe ausstrahlender Felsgrat, dessen kahle Mauerflanken die wunderbarste Schichtenfaltung zeigen; von einer durch eine Kluft bezeichneten Mittellinie, längs welcher die Schichten senkrecht emporsteigen, biegen sie sich nach beiden Seiten hin fächerpalmenartig zu horizontalen Streichen auseinander; auch der unaufmerksamste Bergläufer muß von diesem eigentümlichen Anblicke betroffen und zu einigem Nachdenken über den Grund dieser Erscheinung angeregt werden.
 

Etwas rechts gehalten, um den steilen Abstürzen auszuweichen, gewann ich die Terrassenhöhe. In geringer Tiefe vor mir lag eine weite Trümmermulde, in ihrem Grunde ein kleiner, stiller See, schwärzlichgrün, klar und von geringer Tiefe. Ein schwacher Felsdamm nur begrenzt sein Ufer gegen die Seite des Bergabfalles; in ihn hat der Abfluß eine enge Spalte sich eingeschnitten, die bereits ziemlich tief ist und natürlich im Laufe der Zeit fortwährend sich vergrößert [19]. Ursprünglich, als noch kein tiefer Spalt hier existierte, mag der See wohl das ganze Kar mit seinen Gewässern erfüllt haben; nach einer langen Reihe von Jahren, wann das abfließende Gewässer die Felsschranke bis auf das Niveau des Seegrundes durchsägt haben wird, dann wird der See verschwunden sein und ein trockenes Schuttkar statt seiner sich hier oben ausbreiten.
 


Im Süden waren neue Berggestalten vor mir aufgetaucht, ein zackiger Kranz unbekannter Felsengipfel, augenscheinlich noch weit zurückstehend, den höchstgelegenen, noch nicht völlig sichtbaren Schnee und Trümmerbecken des Kars Raum gebend. Zur Linken stand mit der Fuchskarspitz, eine schroffe Pyramide, an deren Südseite die weitere Felsenumrahmung des Bergkessels unmittelbar sich anzuschließen schien. Ich war einigermaßen in Verlegenheit, wo ich den Gratübergang „Am Balken“ zu suchen haben würde, denn hier zeigte sich noch nichts, was einem Übergangspunkte auch nur entfernt ähnlich sah. Jedenfalls mußte ich behufs [20] der Orientierung noch weiter ins Innere vordringen. Ich stieg daher zum Seeufer hinab und hätte ich hier gewusst, was ich später wahrnahm, so hätte ich mein Ziel, den Hochvogel, bereits ein erstes Mal erblicken können; hart über den Zacken des Umrandungsgrates zeigt sich sein Gipfel mit dem Kreuze; der Unerfahrene wird, wenn er letzteres überhaupt bemerkt, dasselbe jedenfalls für auf dem Grate stehend ansehen. Längs des plätschernden Wässerchens, das in dem Seespiegel sich verliert, stieg ich das schwachbegrünte Gehänge gegen Süden hinan; nach einer Viertelstunde öffneten sich weitere Aussichten.

Die volle Entwicklung des abgrenzenden Hauptgrates stand mir vor Augen; sein weiter Bogen vom Fuchskarspitz bis an den Ablösungspunkt des Wiedemer wird durch eine mittlere, kürzere Gratverzweigung in zwei Becken geschieden, beide kahl und öde, mit zahlreichen, teilweise vielleicht perennierenden [21] Schneefeldern: rechts das "Obere Tal", links das „Kalte Kar“. Die Wände dieses Zwischenkammes waren es gewesen, welche in unmittelbarem Anschluß an den Fuchskarspitz dort jeden Weiterweg zu versperren schienen. Nun waren sie zurückgetreten, eine neue Einbuchtung öffnete sich gegen Osten, und wenige Schritte noch über das Getrümmer ihres Bodens, da zeigte sich ihr naher Abschluß auf dem Hauptgrate; mit Rasenpäckchen besetzte Geröllhänge ziehen zu flachem Sattel sich hinan, auf welchem kirchturmartig eine isolierte, etwa 60’ [22] hohe Felssäule sich erhebt – der Balken. Und von dieser scharf ausgeprägten Übergangsstelle hatte ich von früheren Besuchern des Hochvogel keine bessere Beschreibung erhalten können, als die einer „Scharte im Grat, der aber noch viele andere Scharten habe“. Ist’s doch, als ob die Leute bezüglich ihrer Gebirgsorientierung mit Blindheit geschlagen wären. Hier findet das typische „Führer unbedingt nötig“ der Reisehandbücher seine rechtfertigende Illustration!
 

Zwischen dem Fuchskarspitz, der so recht den zerhackten und durchklüfteten Charakter des Dolomitengebirges zeigt, und der niedrigen Klippenreihe, welche vom Fuße des Balken ausstrahlt, stieg ich in einer Viertelstunde zur Grathöhe empor und berührte damit die Wasserscheide zwischen Iller und Lech. Der Ausblick aufs Illertalgebirge hatte sich seit der letzten Schwenkung gegen Osten fast gänzlich verschlossen, dafür öffnete sich nunmehr eine neue, bisher nur ihren allgemeinsten Umrissen nach mir bekannte Welt. In dunkler Tiefe lag mir zu Füßen das walderfüllte Schwarzwassertal, im Norden vom zackigen Lailach, im Süden von der zerrissenen Kette der Roßkarspitzen begrenzt. Im Osten erschienen bereits einzelne Gipfel der Tiroler Lechalpen, und über sie emporragend entfaltete das Wettersteingebirge seine breite, imponierende Masse. Grelle Sonnenlichter wechselten mit tiefen Wolkenschatten an den starren, gelblich kahlen Mauergestalten. Ich war von Berggündele 1 ½ Stunden unterwegs; es war nahezu 5 Uhr abends. Mein Ziel war noch immer nicht zu erblicken, in der Richtung auf dasselbe zeigte sich die Bergflanke mit endlosen Schutthalden bedeckt, welche in die höchstgelegenen Kare des Schwarzwassertales sich verlieren. Niedrige Längsrisse durchstreichen dies Gehänge, und ein höherer Zacken-Grat schließt im Süden dasselbe völlig ab. Ich nahm die Querlinien über die Gerölllehnen möglichst hoch, fand auch den rauhen Fels allerwärts gut gangbar, und auch die letzte Mauerschranke gestattete auf gebrochenen Gesimsen der schräge gelagerten Plattschichten eine leichte Ersteigung.
 

Im Augenblicke, da ich über den schmalen Grat das Haupt erhob – "Am Sätteli" [23] nennt der Allgäuer diese Stelle – tauchte vor mir riesengroß der Hochvogel empor, in seiner altbekannten Pyramidengestalt, nur etwas südöstlich vorgekrümmt; nördlich an ihn gereiht der abgesprengte Seitengipfel, einer verfallenden Turmruine nicht unähnlich. Zu meinen Füßen lag nun das Schneefeld, der gefürchtete Firnanstieg [24] nach dem Hochvogel; sein blendendes Weiß erfüllt die breite Gasse zwischen den düster gestreiften Mauern des Hochvogel und den zahnigen Strebepfeilern des Sätteli und des Kreuzspitzes. Trichterförmig verengt sie sich nach oben in immer steilerer Hebung; an schmaler, lichter Scharte berührt die Schneedecke den Horizont. Geschützt gegen Süden und Westen, nur den Strahlen der Morgensonne offen, besitzt sie in ihrem oberen Teile permanente Existenz; diese eng ummauerte Felsenbucht führt den bezeichnenden Namen Kalter Winkel. Lediglich der üble Ruf dieses Schneefeldes veranlasste mich, etwas genauer dasselbe zu betrachten, als ich unter anderen Umständen getan haben würde; denn ungewohnt, wie manchem Touristen, der den Hochvogel besucht, waren mir derartige Erscheinungen keineswegs; war es ja doch bereits im zweiten Jahre, daß ich meine Bergwanderungen mit dem Monate Mai begann und halbe Tage lang auf Schnee, an der steilen Böschung die Fußstapfen austretend, umhergestiegen war, wo ein paar Monate später trockener Boden zu finden gewesen wäre. Nun hatte ich einmal ein unvergängliches Schneefeld vor mir, das machte jedoch in seiner Behandlung natürlich keinen Unterschied.
 

Aufstieg im Kalten Winkel Ich stieg vom Grate des Sätteli hinunter, querte noch ein paar Trümmerfelder unter den Mauern des Kreuzspitzes und trat von diesen auf den Schnee über. Lange Strecken konnte ich ohne jedes Stufentreten zurücklegen, hatte auch noch einige Geröllschütten mitten im Schneefelde zu meiner Verfügung, welche ich jedoch des unangenehmen Steigens im zurückweichenden Schotter wegen bald wieder verließ. Allmählich begann die Steile sich zu mehren, Stufe um Stufe mußte sorgfältig ausgestoßen werden, was im aufgeweichten Schnee ohne allzu große Mühe bewerkstelligt werden konnte; ich hielt mich, anstatt in der üblichen Weise eine zweifache schräge Querlinie durch das Schneefeld zu beschreiben, fortwährend nahe den Wänden den Hochvogel, wo die mit Neuschnee erfüllte Bergkluft mir ein rascheres Aufwärtsdringen verstattete. Als ich aber einige Löcher und Unterhöhlungen in dieser Ausfüllung bemerkte, schien mir die Lage nicht mehr geheuer und ich kehrte lieber auf die Schneelehne [25] selbst zurück.

Von den Mauern des Hochvogels, beziehungsweise seines nördlichen Nebengipfels einerseits und den zackigen Schrofenwänden des Kreuzspitzes andererseits auf 50 bis 60 Schritte Breite eingeengt, besitzt die Gasse hier ihre beträchtlichste Steigung, die sich auf durchschnittlich 40°, gegen ihr Ende vielleicht auf 45° belaufen mag; die Länge dieser steilen Strecke mag etwas 100 Schritte betragen. Dies ist auch der einzige Teil des Schneefeldes, welcher in seiner Ummauerung vor den Sonnenstrahlen genügend geborgen liegt, um einen wirklichen Gletscher zu bilden, der in besonders heißen Sommern, wenn aller Schnee weggeschmolzen, als blaue Eismasse erscheint. Dann mag die Ersteigung schwierig und nur mittels Stufenhauens zu bewerkstelligen sein, auch wäre ein Abgleiten auf der, wenngleich kurzen, Eislehne wohl von schlimmen Folgen begleitet. Ich sah im Herbste 1869 den Hochvogelgletscher in diesem Zustande von Lailach aus, müsste mich aber sehr täuschen, wenn nicht der eine Saum desselben sich damals vom Fuße der Felsmauern ganz zurückgezogen gehabt hätte und man sonach zu jener Zeit auf trockenem Boden zum Gratsattel hätte emporsteigen können.

Immerhin bleibt es ratsam, zur Hochvogelbesteigung die frühere Sommerszeit zu wählen, wo man sicher ist, das Firnfeld noch schneebedeckt zu treffen. Die Touristen im Allgäu und ihre Führer tun aber das gerade Gegenteil. Den Fall einer schneefreien Gletscherfläche ausgenommen, ist alles, was über die Gefährlichkeit des „Kalten Winkels“ erzählt wird, ins Reich der Dichtungen zu verweisen. Ein Abgleiten auf dem Schneefelde kann keinem, der sich ruhig verhält und der Fahrt ihren Lauf lässt, den geringsten Schaden zufügen, da das Schneefeld in einer ganz ebenen Mulde ausläuft; von einer Wand, die als Sensationsmoment gewöhnlich mit in die Beschreibung gezogen wird, ist keine Rede. Anfangs September 1871 kam ich aus meinem damaligen Exkursionsgebiete im Wettersteingebirge auf ein paar Tage ins Allgäu herüber, um einen Freund auf den Hochvogel zu führen. Wir trafen den Kalten Winkel noch schneebedeckt und beschlossen, im Rückwege über denselben abzufahren. Ich vermutete im voraus, daß die Sache nicht zum besten ausfallen werde, konnte aber in einem allenfallsigen [26] Misslingen ganz und gar keine Gefahr erblicken und fuhr, nachdem ich Freund H. angewiesen, wenn er niedergerissen werde, nur ruhig liegen zu bleiben und nicht viel zu zappeln, voran. Es ging dahin, daß mir die Luft um die Ohren pfiff und während der ersten Sekunden glaubte ich in der Tat nicht auf den Füßen bleiben zu können; während ich aber im besten Schusse war, flog ein Bergstock und hintennach Freund H. auf dem Rücken liegend an mir vorüber; der Hut tanzte boshafterweise schräg über das Schneefeld und verschwand in der Bergkluft am Kreuzspitz, aus welcher ich ihn übrigens wieder hervorholen konnte. Außer einigen Defekten an Kleidungsstücken, schneegefüllten Ärmeln und dergleichen war kein Unheil geschehen. Dies zur Beruhigung künftiger Hochvogelbesucher.
 

Nach einer halben Stunde hatte ich die Höhe des Schneefeldes erstiegen und trat auf den ziemlich breiten, 8 bis 10 Schritte langen, hügeligen Sattel aus, mit welchem dasselbe auf dem Gebirgsgrate kulminiert [27]. Zur Linken wie zur Rechten türmt sich rauhes Geschröf steil in die Höhe; hier der Seitengipfel des Hochvogel, dort der Kreuzspitz. Im Westen öffnet sich der Ausblick auf die hügeligen Plattenflächen des Wildenfeld, abschließend mit dem Scheitelgrate der Wilden, die hier viel zahmer sich ansehen als drüben im Oytale. In der Tiefe liegen die Trümmerfelder und spärlichen Grasplätze des Weittals, welches ins Jochbachtal und durch dieses mittelbar in den Hornbach ausmündet; eine steile, geröllerfüllte Kluft senkt von der Scharte des Kalten Winkels dort sich hinab, es wäre hier wohl ein Abstieg oder umgekehrt von den Jochbachalpen aus eine Ersteigung des Hochvogels möglich. Die Uhr zeigte nahezu 6 Uhr abends, ich durfte hoffen, um 7 Uhr auf dem Gipfel zu sein und noch eine Stunde lang die Abend-Aussicht zu genießen; ein besonders glänzender Sonnenuntergang war freilich nicht zu erwarten, fast der ganze westliche Horizont war überwölkt.
 

Die Schnur Von dem letzten Hindernisse der Ersteigung, der tiefen Felsenspalte, welche den Gipfelkörper des Hochvogels durchreißt (im Allgäuer Sprachgebrauche „die Schnur“ genannt) erwartete ich mir sehr wenig, nachdem das gefürchtete Firnfeld so ganz und gar unbedenklich befunden worden war; doch sollte mir da noch etwas zu raten aufgegeben werden. Das Aufsteigen über die breiten trümmerbedeckten Felsterrassen des Vorbaues, welchen ich zunächst vor mir hatte, ging leicht und rasch von statten; bald richteten die Mauern steiler vor mir sich auf, während bequem gangbare Schutt- und Grasbänder um die Westflanke des Bergmassivs sich herumbogen; natürlich folgte ich den letzteren, in der Meinung, daß ich in solcher Richtung auch auf die Übergangsstelle der „Schnur“ treffen würde, fand aber all diese Gesimse in Steilwände ausgespitzt und durch eine wirklich unüberschreitbare Schlucht den Weg verlegt. Immer tiefer und tiefer hinabsteigend suchte und entdeckte ich denn auch schließlich einen praktikablen Eingang; auf schrittbreitem, geröllbedeckten Balkone stand ich im düstern Grunde des engen Grabens, dessen Sohle von da ab wieder jäh zur Tiefe stürzte, während schwarze Seitenmauern nur einen schmalen Streif Himmelslichtes über meinem Scheitel übrig ließen. Das Plätschern eines Wässerchens unterbrach allein die Todesstille; noch einmal wurde die brennende Kehle genetzt, die Flasche ihres Schneewasserinhaltes entleert und mit dem glücklich entdeckten besseren Naß gefüllt. Auf dem Hochvogel gab’s kein Wasser mehr.

 

Aufsteigend aus der Schlucht hatte ich erst ein enges, von ausgebauchten Felsstufen überhangenes Geröllband kriechend zu passieren, fand mich dann wieder auf freierem Terrain am Westabhange des Hochvogelgipfels selbst, der mir aber jetzt eine Reihe von Steilabbrüchen entgegenwies; von seiner gangbaren, oberen Lage hatte ich mit dem langen Abstiege diesseits der „Schnur“ mich zu sehr entfernt und erst nach halbstündigem, ziemlich schwierigem Aufklettern sah ich die starren, enggestuften Felsbänke und Zackenrippen wieder sich lösen, in allgemeiner verteilten Schutt verlaufen und war endlich der steten Sorge um den nächsten Schritt und Tritt überhoben. Die auf die Ersteigung des Gipfels in Rechnung gesetzte Stunde war längst verflossen, und ich stand erst am Fuße der Gipfelpyramide. Daß ich den Weg über die „Schnur“ gründlich verfehlt hatte, war mir natürlich klar, und für das Nachtquartier war nun auch übel gesorgt, da ich die Höhle, welche den Ingenieuren zum Unterschlupft gedient, auf diesem verkehrten Wege nicht antreffen konnte.

Wie ich bereits erwähnt habe, gehört der Hochvogel mit zu den wenigen Berggipfeln, welche einen zweimaligen Besuch meinerseits erfuhren; dieses zweite Mal, im Jahre 1871, fand ich mit Leichtigkeit die richtige Fährte. Man hat sich nämlich im Ansteigen von der Scharte des Kalten Winkel weg, ohne Rücksicht auf die lockenden Gras- und Geröllplätze zur rechten Seite, stets möglichst stark aufwärts zu halten, bis hart an den Fuß der senkrechten Wände des turmartigen Aufbaues der Hochvogelschulter; hier trifft man auf ein mehrere Schritt breites, etwas abschüssiges, geröllbedecktes Gesimse, welches in horizontaler Linie um die Bergecke sich herumschlingt und wenige Fuß unterhalb der Scharte zwischen Haupt- und Nebengipfel, über die Kluft, die hier ihren Ursprung nimmt, hinüberführt. Der Sprung über die Kluft gehört ins Fabelreich gleich der Steilwand, welche den am Schneefelde Abgleitenden zu verschlingen droht; es gibt an dieser Stelle nicht eines Zolles Breite, wohin nicht in voller Sicherheit der Fuß gesetzt werden könnte. Wo die Leute nur ihre Augen haben mögen, wenn sie den Berg ersteigen? – oder ihr Gedächtnis, wenn sie davon zurückgekehrt sind?!

Zu wirrem Getrümmer aufgelöst, breitet die nordwestliche Flanke der Hochvogelpyramide sich aus und strebt in starkem Steigungswinkel ihrer Gipfelhöhe zu; immer lockerer und haltloser decken zerschlagene Plattenschollen den Boden, je weiter aufwärts der ermüdende Schritt den Wanderer trägt. Das häufig sich zeigende Gipfelkreuz scheint unveränderlich gleiche Entfernung zu bewahren. Bei völlig frischen Kräften, welche in den seltensten Fällen der Hochvogelbesteiger bis in die unmittelbare Nachbarschaft seines Zieles mitbringen wird wäre auf diese letzte Strecke der Ersteigung wohl eine starke halbe Stunde zu rechnen; gewöhnlich wird nahezu eine Stunde dabei zugebracht, und auch ich, durch die fast unausgesetzte Wanderung von Sonthofen bis auf den Hochvogel bereits ziemlich erschöpft, verbrauchte nicht viel weniger Zeit dabei. So verdankte ich es nur der Tageslänge des Monats Juli, dass nicht noch während der Ersteigung die Nacht mich überfiel, und daß noch spannenweit [28]der Sonnenball über dem Horizonte stand, als die Verschmälerung des gangbaren Bodens mich völlig auf die Gipfelkante hinausdrängte und, den Schlußpunkt einer Reihe klotziger Felsenhöcker bildend, in greifbarer Nähe das Kreuz vor meinen Augen wieder emportauchte.
 

Gipfelkreuz des Hochvogel Mit raschen Sätzen über die zerspaltenen, massigen Blöcke eilte ich der Gipfelhöhe entgegen, am Kreuze vorüber den Schutthaufen hinan, aus welchem die Ruinen der einstigen Signalpyramide aufragen, der höchste Punkt auf dem Scheitel des Hochvogel. Die Hornbacher Berge steigen im Süden vor mir auf, eine lange Reihe ernster, dunkler Gestalten; ein gellender Jauchzer, den ich zu ihnen hinübersende, stört die dämmernde Stille, die in die Täler, in die Felsenöde ringsumher sich gelagert hat. Noch wenige Minuten blieben mir zu Überschau der wildgroßartigen, rätselhaften Welt meiner Umgebung; Dunkel lag in der Tiefe, weder im Schwarzwasser- noch im Hornbachtale konnte ich mehr die einzelnen Gegenstände, nicht Wald noch Wiesen unterscheiden. Die hohen Felsengipfel aber, zumal die Roßkarspitzen in meiner nächsten, östlichen Umgebung, ragten im bleichen Scheine der Abenddämmerung inselgleich im Schattenmeere auf, Nebelstreifen und geballte Wolkenmassen zogen zwischen ihnen hin und wieder. Der ganze westliche Horizont und ein Teil des südlichen war mit grauer Nebelwand überdeckt, deren Spalten und Abschichtungen die scheidende Sonne erleuchtete. Im fernen Westen erglänzte der Spiegel des Bodensees wie rotflüssiges Gold inmitten seiner düster verschleierten Umgebung. – Von Bank zu Bank der feurig geränderten Wolken hinabsinkend verschwand das Tagesgestirn [29] hinter den Höhenzügen des Bregenzer Waldes.

 

Es war 8 Uhr abends; ich hatte zur direkten Ersteigung des Hochvogels (2.588m) von Sonthofen aus nahezu 10 Stunden gebraucht. Das Tagwerk war vollbracht und ich begann nach einem Nachtlager mich umzusehen. Die Höhle, in welcher seinerzeit die Ingenieure kampiert hatten, war mir entgangen und ich hatte wenig Ursache dies zu bedauern; bei meiner zweiten Hochvogelpartie auf dem richtigen Wege sah ich dieses elende, kaum zwei Schritte tiefe Felsenloch, überdies gegen Südwesten, nach der Wind- und Wetterseite hin geöffnet und daher einen höchst mangelhaften Schutz gegen beides bietend. Viel besser zeigte sich der Hochvogelgipfel selbst eingerichtet. Hart neben dem trigonometrischen Signale hat er auf der Ostseite eine tiefe, vollkommen geschlossene Grube, in welcher mittels Beseitigung und Zurechtlegung einiger Felstrümmer, geeigneter Verwendung der umherliegenden Brettchen, Überbleibsel des trigonometrischen Signals, und endlich mittels des eigenen Bergsackes bald ein ganz erträgliches Lager zurecht gerichtet war. Was an Reservekleidungsstücken und Wäsche vorhanden war –nicht viel natürlich – wurde übergezogen, der Proviantvorrat gewissenhaft zwischen heute und morgen geteilt; noch eine kurze Weile saß ich still beschaulich auf dem Gipfel, während alles ringsumher im Dunkel versank und der Bergwind in kalten Stößen aus den Karen heraufbrauste; die Helle des Mondes begann sich geltend zu machen und warf durch Lücken des Gewölkes hier und dort ihre grellen Lichter auf die Felsenriefen. Die zunehmende Kälte aber trieb mich bald in meinen Schlupfwinkel zurück; ich streckte mich, so gut es gehen wollte, über den holperigen Boden, richtete den Bergsack zurecht, legte mich aufs Ohr und sagte dem Hochvogel gute Nacht.
 

Die Ermüdung des verflossenen Tages ließ mich anfänglich in einen Halbschlummer fallen, ohne daß mir jedoch zu irgendeiner Zeit das Bewusstsein meines Aufenthaltsortes völlig geschwunden wäre; bald war es auch mit dem halben Schlafe vorüber, die Lagerstätte war zu ungewohnt und die Kühle der Nacht zu empfindlich. Ich lag nun meist mit offenen Augen in meinem Felsengrabe, betrachtete die aneinandergereihten, vom untergehenden Monde grell beleuchteten Wolkenballen die greifbar nahe über mich hinwegflogen, den Sternenhimmel, den ihre Lücken sichtbar werden ließen, und an welchen ich in der Ortsveränderung der Gestirne das allzu langsame Vorrücken der Nacht ermaß. Der Sturmwind, immer mächtiger sich erhebend, heulte und pfiff dazu gar wundersame Melodien, bald durch die Felsenklüfte streichend, klingt seine Stimme wie Äolsharfen [30] in die Leere, bald donnert er in wildem Prall gegen die Wände, als gälte es, den Berg in seinen Grundfesten zu erschüttern. Dann wieder Stille, - und leises Flüstern zittert durch den weiten Raum; der Mond bricht durch die Wolken, umflorte [31] Nebelgestalten schweben durch Sterngefunkel dahin, durchs Schwarzwassertal zum Lech hinaus, dem flachen Lande zu, - dort in der Heimat mögen sie erzählen, wen auf dem Hochvogel sie gesehen. Aus ihrem schimmernden Reigen taucht im Silberglanz ein Zauberbild hervor von lockender Gewalt – ich kenne es wohl, der Lailach ist’s, mit seinen zackigen Wänden – aber dahin gestreckt liegt an seiner Stelle nun im Wolkenbette unter dem schwarzblauen Himmelsgezelt eine Feenerscheinung mit lang herabwallendem Schleier. Sie winkt mich hinüber in ihren blendenden Lichtkreis, weg über das Schattenmeer, dessen Abgrund vor meinen Füßen gähnt. Da erwachen wieder die finstern Mächte, aus den unsichtbaren Tiefen brechen ihre Wirbel hervor, näher und näher rückt der brausende Schwall; das Zauberbild verlischt in Nacht. Vorbei; vorbei! Heult’s durch den Sturm – und da rasen sie wieder heran an die Mauern und fahren pfeifend durch ihre Klüfte, daß die gewaltige Pyramide in ihren Fugen ächzt. Reißt doch den Hochvogel selbst in den Grund, wenn ihr könnt! Fegt mich weg von der Zinne, die ich mit Aug’ und Eisen mir gewonnen, wie ihr die Lichtgestalt des nächtlichen Zaubers zerstört! – Das ist die Grenze eurer Macht. - - - Wohl hab’ ich noch oft in spätern Tagen der Nacht auf dem Hochvogel mich erinnert. - - -
 

nächtliches Gewitter Der Mond sinkt unter den Horizont, dichteres Dunkel umfängt meine Felseninsel im Luftozean, schwärzer noch als die Nacht zeichnet der Umkreis des Gebirges am Himmel sich ab; über die massigen Türme der Hornbacher Kette leuchtet Gewitterschein ferne im Süden. Mit dickem Frühnebel füllen sich die Täler; bald fliegen sie herauf, die Berghäupter einhüllend, bald wieder sinken sie bleiern zurück in die Tiefe. Durch ihre Lichtungen zeigt sich ein heller Streif im Osten, es naht der Tag, der Sonnenball, den ich hinter den Schweizer Bergen niedergehen sah, schickt sich an, über die Zackengipfel der Roten Flüh wieder emporzusteigen. Nebelgrau ist dort der Himmel und nebliger Dunst umfängt mich von allen Seiten, selten nur einen Blick auf die benachbarten Berge gestattend. In senkrechter Höhe über mir aber ist der Schleier durchsichtig und an dem Verbleichen der hell leuchtendsten Gestirne erkenne ich den Anbruch des Morgens.
 

Ich verlasse mein hartes Lager mit steifen und erstarrten Gliedern und setze mich auf einen großen Block am Rande der Grube. Noch immer fliegen die Nebel aus dem Berggündlestale über den Kreuzspitz herüber und wandern in langen Zügen das Hornbach- und Schwarzwassertal hinaus zum Lech; auseinanderbrechend zeigen sie den Morgenhimmel in wachsender Helle, und langsam erscheint dort die glutrote Sonnenscheibe, auf dem zahnigen Haupte des Kellerschrofen [32] sich wiegend. Höher und höher steigt sie im Nebeldamme auf, bald treffen ihre glänzenden Strahlen auf die Dunstmassen die ringsumher die Täler erfüllen. Da entspinnt sich der Kampf des wiedererschienenen Lichtes und der Wärme, die es mit sich bringt, gegen die feuchten Nebel, welche ihr Gebiet Schritt für Schritt verteidigen, von den Höhen in die Täler, in diesen bis zu ihren verborgensten Winkeln zurückweichen, während einzelne Schichten und Ballen aus ihnen wie im verzweifelten Widerstande an den Schattenseiten der Gebirge sich emporbäumen, um in der Höhe des Grates, von den lebendigen Strahlen getroffen, um so schneller zu zerstieben. In kurzem waren die Täler des Hornbachs und Schwarzwassers von ihren Dünsten gesäubert, über dem Berggündlestale lag noch ein milchweißes Nebelmeer, aus welchem nur der Schnecken neugierig sein blätterdünnes Felsenhaupt hervorstreckte. Licht war’s geworden, in klarer Helle lag das weite Aussichtsbild vor mir, das tags zuvor in rätselhaftem Düster zu meinen Füßen sich hingebreitet hatte.
 
Blick vom Hochvogel auf die Hornbachkette


Die Hornbacher Kette, deren Gipfel ich so oft schon über den Grenzgrat des Allgäu hatte herüberwinken sehen, ohne noch recht zu wissen, wohin ich diese eigentümlichen Formen stellen sollte, stand mir jetzt gerade gegenüber, nur durch das enge Hornbachtal getrennt, vom Fuße bis zu ihren Häuptern dem forschenden Auge enthüllt. Weite, kesselförmige Kare lagern über waldreichen, mauerdurchstrichenen Bergflanken und aus ihnen steigen die Gipfel auf, starr und kahl, zackengekrönte Wände. In ihrer Mitte dominiert ein steilaufstrebendes Trapez, der Urbeleskarspitz. Nahe am Ilfenspitze vereinigt der Hornbacher Kamm sich mit dem wasserscheidenden Zuge der Allgäuer Alpen. Im Westen erscheinen über dem welligen Steinfelde des Wilden die einförmigen Gebirgszüge des Bregenzer Waldes, die mauergegürtete Gruppe der Gottesackerwände und obenauf das schiefe Dach des Hohen Ifen. Noch ferner, an den Grenzen des Gesichtskreises der schneeglänzende Säntis und die dunklere Zackengruppe des Altmann. Im Nordwesten der breite Daumenstock, im Norden Rauhhorn und Gaishorn, im Nordosten die Birkentaler Berge mit ihrem Haupte, dem Lailach. Vor diesen augenfälligsten Gipfeln ist der Raum erfüllt mit wenig ausgeprägten, teils kahlen, teils krummholzbewachsenen Rücken und Kuppen; nebelverschwommene Striche des flachen Landes verlieren sich in die Ferne. Im Osten starren, zu einem unförmlichen Klumpen geballt, die Roßkarspitzen zwischen Schwarzwasser- und Hornbachtal; ihre Scheitel liegen nahe an 10000’ unter dem Gipfel des Hochvogel. Über ihnen und zu ihren beiden Seiten streben die Lechtaler Berge auf, hohe Kämme, grüne Alpenkare, dunkelschrofige Gipfel. Die Grenze der Sichtbarkeit bilden das Wettersteingebirge und die hohen Kalkmassive am Paß Fern; einzelne, durch die Lücke des Leutaschtales sich zeigende, noch ferne stehende Zacken gehören dem Quellengebiete der Isar an.

Die nächtliche Umgebung des Hochvogel endlich – sie besteht aus Fels, aus Schutt und Firn. Dreikantig baut seine Pyramide sich zusammen und trennt mit steilfallenden Zackenrippen die Kare, in welche sie den Fuß ihrer Wände setzt. Am bedeutendsten ist ihr Absturz gegen Nordosten; hier breitet unter den Steilmauern, die fast vom Gipfelgrate weg bis auf die Sohle ohne bedeutendere Unterbrechung in einer Flucht hinabsetzen, das Fuchskar seine Schuttfelder aus, welchem als besondere, abgetrennte Ausbuchtung auch der Kalte Winkel angehört; ein Teil des weißen Firnmantels ist auch von der Scheitelhöhe des Hochvogel wieder sichtbar. Die ostwärts sich absenkende Pyramidenkante, die zerrissenste von allen, setzt den Gebirgsgrat vom Hochvogel nach den Roßkarspitzen hin fort; sie bildet am östlichen Fuße des ersteren einen breiten, flachen Geröllsattel, den Übergangspunkt aus dem Fuchskar ins Kühkar auf der Hornbacher Seite, und daher sowohl aus dem Schwarzwasser- als auch aus dem Berggündlestale nach Hinterhornbach. Die westliche Breitseite des Hochvogel fällt anfangs schräg, zu unterst aber in gewaltigen Steilwänden ins Weittal; die südwestliche Kante, welche die zweite der beiden ausgesprochenen Bergschultern, der „Flügel“ des Hochvogels, enthält, tritt erst unterhalb des Gipfels aus dem Felsmassive heraus; im allgemeinen zeigt sich gegen Süden der Abfall des Hochvogel ziemlich gemäßigt und ist auf weite Strecken abwärts zu überblicken. In der Tiefe, und augenscheinlich nicht in direktem Zusammenhange mit jenen den Blicken geöffneten gangbaren Plätzen, lagern die Trümmerhalden des Roßkars; noch tiefer hinab bekleiden Buschwerk und Grasflächen die Gebirgsflanke, auf vorspringendem Endpunkte eines niedrigen Bergwulstes, welcher das Roßkar vom östlicher gelegenen Kühkar trennt, zeigen sich die Hütten der Eckalpe. Und noch eine gewaltige Stufe tiefer erreicht das Auge den Talgrund; da liegen über die saftig grünen Matten des Hornbachtales und seiner nächsten Hügelanschwellungen hin zerstreut die Häuschen und Alphütten von Hinterhornbach, da windet der Hornbach sich vernehmlich rauschend durch sein schmal eingemauertes Bett, da leuchtet ein azurfarbener kleiner See am Zusammenschlusse des jungen, aus dem Petersalpentale hervorkommenden Hornbaches mit seinem stärksten Zuflusse, dem Jochbache, der von den Wilden und vom Hochvogel die Schneegewässer sammelt.
 

Hochvogel Ein paar Stunden noch verweilte ich auf dem Gipfel, bald auf dem Trümmerhaufen der einstmaligen Signalpyramide, im Anblicke des Hornbachtals und der südlichen Gebirgsketten, bald wieder am Kreuze, welches etwa 15 Schritte weit tiefer stehend, aus runden, mit Weißblech beschlagenen Balken zirka 12’ hoch aufgezimmert, das Schwarwasser- und das Ostrachquellengebiet beherrscht. Die Sonnenwärme von außen, ein Frühkaffee von innen hatten bereits eine behaglichere Verfassung ins leibliche Dasein gebracht, die Steifigkeit der Glieder war geschwunden, und ich begann allmählich an die Rückkehr zu denken. Wohin? das war noch die Frage; mancherlei Wegerichtungen standen mir zum Versuche offen. Ich konnte nach der Berggündle-Alp zurückkehren, wie ich von dort gekommen, ich konnte auch im Kalten Winkel weiter absteigen, das Schwarzwassertal zu gewinnen suchen, und übers Lailachgebirge nach Nesselwängle, oder aber den Traualpsee berührend nach Thannheim gelangen. Ich konnte drittens vom Kalten Winkel und Fuchskar weg südlich mich wenden und den Kühkarsattel überschreiten und konnte viertens den Kalten Winkel ganz beiseite lassen und durch die bereits gestern beobachtete Schlucht den Abstieg ins Weittal und Jochbachtal versuchen; beide Wege führten mich dann nach Hinterhornbach. Und endlich erinnerte ich mich ja, gehört zu haben, daß der Hochvogel, freilich nur als Rarität, auch von seiner Südseite direkt bestiegen worden, und faßte ich den grünen Boden des Hornbachtals, die Weidematten der Eckalpe und die Schutthalden des Roßkars ins Auge und ins Feld des Fernrohrs und ließ den gewaffneten Blick dann über die Felswände heraufgleiten bis vor die eigenen Füße, so vermeinte ich, das Gefüge jedes einzelnen Steines in unmittelbarem Zusammenhange mit dem des nächsten zu sehen; je häufiger ich hinunter blicke, um so fester wurde meine Überzeugung, daß ein Versuch gelingen müsse. Auf dem Hochvogel übernachten und dann auf der Hornbachseite hinuntersteigen! Das war in der Tat der Rede wert. Der Entschluß zu wagen war gefaßt.
 

Ich packte die Ausrüstungsgegenstände, die über den ganzen Gipfelraum zerstreut lagen, zusammen, legte noch einen Stein vom Gipfel bei und schulterte den Bergsack. In einem breiten Felseinrisse begann der Abstieg, erst luftig durch die Gerölle hinunterspringend, allgemach behutsamer, Tritt vor Tritt gesetzt, bald wurde aus dem Gehen ein Klettern, stets griff die eine Hand am Felsen an, während die andere mit weit vorgestrecktem Bergstocke nach einem Stützpunkt in der Tiefe suchte. Eine starke Viertelstunde mochte ich abwärts gegangen sein, als aus der breiten Bergseite der Grat, die südwestliche Pyramidenkante, als eine Reihe schrofiger Höcker bestimmter hervorzutreten begann; ich hatte sie zur Linken, und da ich vor mir noch gangbares Terrain sah, keine Veranlassung, sie zu ersteigen und zu überschreiten. Noch einige Stufen ging’s steil hinab; links türmten sich wilde Zacken auf, vor mir lag, unterhalb einer steilfallenden Gürtelstufe, ein abschüssiger Platz kompakten Schuttes, dessen naher Rand in verdächtiger Weise abgeschnitten erschien. Der stufenlose Boden gewährte unsicheren Halt, ich wünschte nun ins raue Geschröfe zur Linken zu gelangen; hatte dabei ein enges Gesimse zu passieren, und um mit beiden Händen zugreifen zu können, lehnte ich den Bergstock an die Mauer, etwas unachtsam, er glitt aus, fuhr langsam über den Schuttplatz hinunter und an seinem Rande überkippend verschwand er lautlos in der Tiefe. Ein böses Zeichen!
 

Ich suchte meinen Weg wieder etwas zurück aufwärts und strebte der Gratkante zu, die mir weiteren Ausblick eröffnen sollte. Eine enge Klamm zwischen dem Bergkörper und einer haushohen, davon abgespaltenen Felsmasse gestattet einen schwierigen Durchgang; in einer schmalen, mit etwas feuchtem Sande ausgefüllten Plattenrinne arbeitete ich mich zum Grate hinauf, übersprang einige Schrofen und blickte hinunter in die Tiefe, die sich vor mir auftat. Eine gewaltige Schlucht durchschneidet die ganze westliche Flanke der Hochvogel-Pyramide bis zur Kante herauf, über ihre senkrechte Randmauer, die bereits in nächster Nachbarschaft der oberen Ausmündung eine Höhe von 100’ und darüber erreicht, war mein Stock hinuntergestürzt; wie weit er dann in der Sohle noch hinuntergeschossen sein mochte, war kaum abzusehen; vielleicht bis auf die Schuttfelder, zu welchen der Graben tief gegen das Weittal hinab sich verflachte.

 

Ich stand etwas verdutzt auf dem schartigen Grate und ratschlagte, was zu tun sein; genau genommen, saß ich in einer richtigen Mausefalle. Der Stock verloren, der weitere Abstieg ins Hornbachtal fast hoffnungslos, der Rückweg über den Kalten Winkel versperrt, weil ich auf dem Firnfelde des Stockes unbedingt notwendig bedurfte. Ich ließ die verschiedenen Möglichkeiten Revue passieren und stellte dann folgenden Operationsplan fest: Ein Abstieg ohne Stock ist in jedem Falle ein übel Ding; in der Schlucht, die vor mir aufgähnt, muß mein Stock doch schließlich sich befinden, also zunächst diesen gesucht. Findet er sich nicht, dann zurück auf den Gipfel des Hochvogel, wo ich mich an den Trümmern der Signalpyramide wenigstens mit einem Surrogat [33] eines Stockes versehen kann, sei’s auch nur ein kurzer Span, um im sitzenden Abfahren über den Kalten Winkel mich darauf zu stemmen. Die Untersuchung der Kluft, die von der Scharte des Kalten Winkel gegen das Weittal sich abtieft, blieb ebenfalls noch vorbehalten.
 

Zunächst also begann ich in den wüsten Tobel [34], der vor mir lag, hinabzusteigen; eckige Schrofenmassen, an welchen die Hände noch Halt fanden, während freilich das Hinablassen von Stufe zu Stufe mit größter Vorsicht bewerkstelligt werden mußte, bildeten Rand und Sohle der Schlucht in ihrem oberen Teile; tiefer folgten die Schuttfelder, nicht lose Geröllmassen, sondern stark abschüssiger, kompakter Gries, mit dünner, rollender Schuttlage bedeckt; hier, wo die Hände eines fassbaren Gegenstandes entbehrten, war das Absteigen ohne Stock womöglich noch unangenehmer. Und der Stock wollte sich nicht zeigen, obwohl ich nun das ganze Trümmerfeld überblickte. Ich stieg hin und her, links und rechts auslugend, und war beinahe schon entschlossen, den Versuch aufzugeben. Da plötzlich bemerkte ich den Ausreißer in einer Seitenrinne, deren Blockwerk seine weitere Fahrt aufgehalten hatte. Behutsam, um nicht durch ein abrollendes Felsstück eine Fortsetzung derselben zu veranlassen, näherte ich mich ihm von der Seite und faßte ihn mit dem Gefühle höchster Befriedigung wieder auf. Er war schlimm mitgenommen. Die Spitze war hakenförmig umgebogen und mußte erst wieder leidlich gerade geklopft werden, sein oberes Ende hatte einen mehr als fußlangen Splitter verloren. Immerhin besser dein Kopf gespalten, als der meinige! Trotz seines Defektes habe ich ihn doch noch den ganzen Sommer über geführt, ja sogar im folgenden Jahre machte er wieder die meisten meiner Besteigungen in der Karwendelgruppe mit. An den Jägerkarspitzen war dem treuen Begleiter sein Ende beschieden. Er liegt, warscheinlich zertrümmert, in einer Felsengruft des Riegelkars.
 

Beinahe hätte nochmals der Experimentierteufel die Oberhand gewonnen und hätte ich, einmal so tief in dieser Schlucht, den weiteren geraden Abstieg ins Weittal versucht, der an den Steilwänden seiner Umfassung dann gründlich gescheitert wäre. Ich besann mich aber doch eines Besseren und stieg, so rasch als möglich, aus dem schattenkalten Felsgraben zur sonnigen Grathöhe wieder auf. Wieder im Besitze des unentbehrlichen Hilfsmittels, gedachte ich noch die letzte Möglichkeit des Abstieges nach Hinterhornbach zu erproben. Die Gratkante, die ich anfänglich verfolgte, blieb nur auf kurze Strecke gangbar; zu scharfen Klippen zerspalten wendet sie sich gegen Westen und stürzt von vorspringender Ecke um mehrere hundert Fuß steil ab; dann folgen wieder Zacken und Höcker, die gleichen, welche ich vom Hochvogelgipfel aus in unmittelbarem Zusammenhange mit den ersteren zu sehen geglaubt hatte. Ein tiefer Einriß leitete meine Schritte gegen links, in gerader südlicher Richtung auf die Terrassengürtel über dem Roßkar hinab. Das Steigen wurde mit jedem Schritte heikler. 4 – 6 Zoll breite, schuttbedeckte, etwas abschüssige Gesimse durchstreichen in fast horizontalen Linien die Bergflanke, durch senkrecht absetzende Steilstufen voneinander getrennt; kaum ist über einen solchen Absturz mit vielem Hin- und Hersuchen ein tauglicher Hinunterweg gefunden, so legt auch schon eine neue Wand dem Schritte sich entgegen und das Querlaufen beginnt von neuem; dabei hat man in nächster Nähe den abgerissenen Rand, welcher die Schuttfelder des Roßkars in sehr geringer horizontaler und sehr bedeutender vertikaler Entfernung sehen lässt und mit solch unbehaglicher Demonstration daran erinnert, daß man über gewalten Steilwänden sich umherbewege.
 

von Hermann von Barth angefertigtes Vertikalprofil vom Hochvogel Langsam nur gewann ich an Tiefe, und lange währte es, bis die Terrainverhältnisse etwas günstiger sich gestalteten, breitere Schutt-Terrassen, niedrigere und häufiger unterbrochene Mauergürtel ein geraderes und rascheres Absteigen ermöglichten. Ich schloß mich hier wieder hart an die Schrofenzacken der Gratkante an, ihrer neuerlichen Wendung gegen Süden folgend, wo sie zu einem flachen Geröllsattel sich herabdrücken und dann in zerfahrenen Klippen wieder etwas sich erheben. Noch einmal schnürte der gangbare Boden sich enge zusammen, die aufragenden Mauern des Grates zur Rechten, sah ich wieder hart an meiner Linken die Schuttfelder des Roßkars, zu welchen hinab das Auge noch eine beträchtliche Tiefe maß. Dann trat ich in den Geröllsattel ein, erwartungsvoll gespannt, welch weitere Aussichten dort sich mir eröffnen würden; denn die Ostflanke des Felsenrückens war über diesen Sattel hinaus gänzlich ungangbar, und auf der Schneide selbst vorzudringen, war ebenfalls ein höchst problematisches Unternehmen. Um so angenehmer war ich überrascht, auf der Weittal-Seite nunmehr gut gangbaren Boden zu finden, zerteilte Schrofenrippen, mit Schuttplätzen und Grasstreifen untermischt; schnell war die südliche Endrundung des Bergrückens gewonnen, auch hier zeigten sich mäßig geneigte, etwas begrünte Felshänge, noch war der volle Zusammenhang dieser Plätze nicht zu übersehen, aber mit jedem Schritte weiter abwärts ergaben sich neue Verbindungslinien, und bald sprang ich den letzten, von niedrigen Zackenmauern eingeschlossenen Schuttstreifen mit einer Eile hinab, als könne jetzt noch der glücklich gefundene Ausweg mir plötzlich unter den Füßen wieder verschwinden. Drei Stunden nach Aufbruch vom Hochvogel-Gipfel berührte ich den wellenförmigen Hügelboden des Roßkars, terra firma [35]. Mit einem gewissen vergnügten Schauder blickte ich an den schwarzen Riesenwänden hinauf, über denen ich vor kurzer Weile noch herumgeklettert war.
 

von Hermann von Barth angefertigtes Horizontalprofil vom Hochvogel Den gebahnten Pfad, welcher quer durch die obere Ausmuldung des Roßkar-Grabens nach den Eckalpen hinüberführt, hatte ich bereits vom Gipfel des Hochvogel aus wahrgenommen; nach einer weiteren halben Stunde langte ich bei den Eckalpen [36] an, die ich zu meinem Vergnügen bewohnt antraf; ein Napf Milch wurde gierig verschlungen. Die Leute machten große Augen, als ich ihnen erzählte, daß ich auf dem Hochvogel über Nacht gewesen und geradewegs von seinem Gipfel herunter komme. Nach kurzer Rast brach ich wieder auf und wanderte den breiten Alpweg durch Krummholz und Wald hinunter nach Hinterhornbach. Das Dörfchen bietet ein typisches Bild abgeschiedener Tiroler Bergeinsamkeit, wie man es nur auf den Terrassen der hohen Zweigtäler in den Zentralalpen wieder antrifft. Kirche, Pfarrwohnung und Wirtshaus stehen hart nebeneinander; noch einige aus Holz gezimmerte Häuser liegen in ihrer näheren Umgebung, die übrigen zerstreut an den untersten Berghängen. Der Hornbach fließt verborgen in seiner Klamm, die in der Nähe des Dorfes nicht sonderlich tief, aber äußerst enge und mauerschroff umschlossen ist; ein paar hundert Schritte vom Wirtshause taleinwärts führt eine gedeckte Holzbrücke über die Klamm des Jochbaches, der in unmittelbarer Nähe von Hinter-Hornbach erst mit dem Hornbache sich vereinigt. Kaum hundert Schritte südwärts vom Dörflein entfernt, setzt sich der Fuß des Gebirges ins Tal; früh am Nachmittage ist Sonnenuntergang in Hinter-Hornbach. Fällt das gelbe Laub von den Bäumen, füllen die Hochkare sich wieder mit Schnee, dann beschreibt das Tagesgestirn immer kürzere Bogen über den Felsenspitzen; deckt das erste Winterkleid den grünen Talboden, so fällt der Sonnenstrahl nur durch die Scharten noch herab und endlich bleibt er ganz aus. 8 Wochen lang sieht dann das einsame Tal keine Sonne mehr. Einen Monat nach der Sonnenwende erst endet für dasselbe die Periode arktischer Dämmerung.
 

Im Wirtshause, das ich gegen 11 Uhr vormittags erreichte, ging meine erste Frage natürlich nach Speise und Trank. Für letzteren war gesorgt. Roter Tiroler aus dem Etschlande verirrt sich auch bis ins Hornbachtal. Um so schlimmer war es um konsistentere Nahrung bestellt. Von Fleisch natürlich keine Rede, so hoch hatten meine Phantasien sich auch gar nicht verstiegen. Aber Brot dachte ich doch erhalten zu können; eitle Täuschung! Der aus dem Lechtale bezogene Vorrat war ausgegangen, und in Hinter-Hornbach selbst wird keines gebacken. – Käse, - Butter – ebenso wenig; das Vieh ist auf den Alpen. Außer dem Mehlkasten war in der Tat kein genießbarer Vorrat im Hause. Und als ich weiter frug, mit was sie denn das Mehl kochten, wurde mir die tröstliche Antwort: „diemeist mit Wasser.“ Schließlich kam doch eine ganz leidliche Schüssel Kücheln, oder was es sonst vorstellen mochte, zustande; sie hatten von seiten meines ausgehungerten inneren Menschen ohnehin keine sonderlich strenge Rezension zu besorgen. Ziemlich erfrischt und gestärkt setzt ich mich Nachmittags 2 Uhr wieder in Marsch und erreichte auf dem breiten Saumwege des Hornbachtales, der meist hoch über dem schäumenden Bache dahinführt, um 4 Uhr den Ort Vorder-Hornbach am Lech. Hier suchte ich den Zimmermann Bacheles auf, dessen Gebirgskenntnis mir gerühmt worden war, und wünschte von ihm einige Erkundigungen über die gänzlich unbekannte Hornbacher Kette einzuziehen; traf aber auch bei ihm auf eine bedauerlich Unwissenheit und sah mich auf spätere eigene Nachforschungen angewiesen. In den Abendstunde gedachte ich noch Weißenbach am Lech zu erreichen, wurde aber halbwegs durch plötzliche Müdigkeit und Schlafsucht, teilweise wahrscheinlich auf Rechnung des Hinter-Hornbacher Weines zu setzten, genötigt, in einer verlassenen Alphütte an der Ausmündung des Schwarzwassertaler zu übernachten.
 

Blick vom Gaichtpass auf die Tannheimer Berge um ca. 1960 Anderen Morgens dann wanderte ich über Weißenbach und den Paß Gacht [37] nach Nesselwängle hinauf, nützte den Tag noch mit einer Besteigung des Aggenstein, war spät abends in Schattwald und in der Frühe des folgenden Tages in Sonthofen zurück. Infolge des improvisierten Abstieges nach Hinter-Hornbach war ich einen Tag länger ausgeblieben als geplant gewesen, und schon hatte wieder das Gerücht sich verbreitet, daß ich diesmal „verfallen“ sei; ein Gerücht, das um so bereitwilligeren Glauben fand, als den Hochvogel ohne Führer ersteigen zu wollen, den Leute geradezu als Wahnsinn galt. Meine persönliche leibhaftige Erscheinung zerstreute bald genug jedwede Besorgnis; und für den Hochvogel, gleich wie im Jahre vorher für manchen Berchtesgadener Gipfel, hatte ich manche festgewurzelte Anschauung und Sage zu korrigieren, in nüchterner Darstellung der tatsächlichen Verhältnisse, welche verschiedene frühere Ersteiger dieses Gipfels lieber vermieden gesehen haben würden. Mir war’s ein Erfolg unter vielen; ein neuer, größerer, schwebte fortan mir vor Augen, ein steilerer Fels, ein schlankeres Horn, als der Hochvogel, erfüllte meine Phantasie. Über den Eisgrüften der Hohen Trettach wollte ich thronen auf jener Felsensäule, die des Touristen Schritt, naht er der höchsten Zinne der Allgäuer Alpen, in starrem Erstaunen bannt; die, einmal von kecken Geißbuben aus Einödsbach erklommen, seither – man sagt es – von keinem Wagehals mehr betreten worden. Den Hochvogel nannte ich mein; die Trettachspitze stand jetzt auf erster Linie des Programms.
 
Bemerkungen:
Online-Veröffentlichung der Erzählung „Eine Nacht auf dem Hochvogel“ aus dem Buch „Einsame Bergfahrten“ von Hermann von Barth (Albert Langen – Georg Müller Verlag, München 1925 – einmalige Ausgabe für die Deutsche Hausbücherei Hamburg) im Rahmen einer gemeinfreien Nutzung nach dem Urheberrecht.
Rechtschreibung, Zeichensetzung und Satzbau sind im originalen Zustand belassen worden. Als zusätzliches gestalterisches Mittel wurden aktuelle und teilweise auch historische Schwarz-Weiss-Aufnahmen in die ursprünglich unbebilderte Erzählung eingebaut. Die Aufnahmen sind zur Auflockerung des Textes gedacht und versuchen einen regionalen Bezug zur Erzählung herzustellen. Mit Ausnahme der Horizontal- und Vertikalprofile vom Hochvogel (Kunst-Beilagen aus dem Werk „Aus den Nördlichen Kalkalpen“ von Hermann von Barth, 1874) handelt es sich hierbei um keine überlieferten echten Bild- u. Zeitdokumente aus jener Zeit.
Zur besseren Einordnung abweichender geographischer Bezeichnungen und zum besseren Verständnis einiger von Barth benutzter und im heutigen Sprachgebrauch weithin unbekannter Ausdrücke wurden gesonderte Fußnoten angebracht und am Ende der Erzählung in einem Glossar zusammengefasst.

Zusätzlicher Hinweis: Die Aufarbeitung bzw. Bereitstellung dieses Dokumentes ist im Sinne der Verfügbarmachung eines alpinhistorischen literarischen Werkes zu verstehen. Die Tourenbeschreibung ersetzt keinesfalls aktuelle Bergführerliteratur.
 
Glossar:
[1] Berggündele: heute Bärgündele; Bärgündele-Tal, Bärgündele-Alpe -->zurück
[2] Wildsee: heute Schrecksee -->zurück
[3] Rindalpenhorn: heute Rindalphorn (Nagelfluhkette) -->zurück
[4] Fanach: Der ganze Mittelabschnitt der Nagelfluhkette wurde früher einfach Grat genannt. Daher ist es verständlich, dass man einzelne Teile nach den angrenzenden Alpen benannte, wie z.B. 1861 nach der Fahnenalp (= Fanach) in der Nordseite. Hochgrat besagt einfach, dass es sich um den ganz hoch oben aufragenden Grat handelt (Allgäuer Bergnamen, Thaddäus Steiner ISBN 978-3-89870-389-5) -->zurück
[5] genagelte Schuhe: In der damaligen Zeit waren die Sohlenböden der Bergstiefel durch die Holznagelung sehr steif und durch diese Nichtflexibilität der Sohle blieb der Legende nach im Jahre 1880, der Schuh des Goiserer Schuster Franz Neubacher bei einer Bergwanderung in einem Erdloch stecken. Der Bergführer mußte den Schuh zurücklassen und den Heimmarsch mit nur einem Bergschuh zurücklegen. Zuhause in Goisern angekommen, fertigte sich der Schuster Neubacher einen zwiegenähten Bergstiefel mit griffiger Sohle an. Der Urtyp des Goiserers besaß handgeschmiedete Eisennägel in den Laufsohlen, sogenannte "Schenken" und "Spitzköpfe", damit waren die Schuhe trittsicher und rutschfest. (Schupflegetips.de/forum) -->zurück
[6] Scharte „Am Balken“: heute Balkenscharte -->zurück
[7] pythisch: rätselhaft, dunkel, orakelhaft (Quelle: Duden.de) -->zurück
[8] frugal (lat.): mäßig, genügsam in Bezug auf Speise und Trank (Quelle: Retro-Bibliothek http://www.retrobibliothek.de) -->zurück
[9] Aueliswände: sind die Ausläufer vom "Auf dem Falken" Richtung Ostrach. Man durchquert Sie auf dem Weg von der Giebelstraße Nähe Roßhütte hoch zur Taufersalpe. -->zurück
[10] Eisenbreche: Zwei von der Ostrach durchflossene Klammen zwischen Giebelhaus und Hinterstein -->zurück
[11] Bachalpe; 3000jähriger Eibenbaum: Eigene Recherchen: Die vermutlich älteste deutsche Eibe stand im Allgäu im Bärgündele, hatte einen Stammdurchmesser von 1 m und wurde auf 2000 Jahre geschätzt. Leider musste die Eibe inzwischen gefällt werden - und dabei wurde ein Alter von "nur" 600 Jahren ermittelt! -->zurück
[12] Krummholz (Knieholz): Bezeichnung für in höheren Bergregionen wachsende Holzgewächse, deren Stämme oder Äste vielfältig gekrümmt sind (Meyers Lexikon online) bzw. eine Art Kiefer (Pinus montana Linn.), deren besonderer Wuchs darin besteht, dass der Stamm und die Zweige eigentlich nicht gerade in die Höhe gehen, sondern auf der Erde gedrückt und unordentlich, oft kreuzweise durcheinander laufen. Die Zweige kriechen wohl 20 bis 30 Fuß vertikal, alsdann aber richten sie sich pyramidenförmig auf, selten jedoch über 10 bis 15 Ellen. Ein mit ihnen besetzter Platz ist deswegen für Menschen beinahe undurchdringlich (Oekonomische Encyklopädie von J.G. Krünitz http://www.kruenitz1.uni-trier.de) -->zurück
[13] Restauration: Im 19. Jh. wurde damit eine Gaststätte bezeichnet (wikipedia.de) -->zurück
[14] Lerchwand: Lärchwand 1.880m begrünter Gipfel im Rauhhornzug -->zurück
[15] Rothtenne: evtl. Rotkopf 2.194m, da in Verbindung mit Bergkamm zwischen Giebel und Schneck -->zurück
[16] rauhes Geschröf: Ableitung von Schrofen, der Fels: Zerklüfteter Fels; steile abweisende Felsen; Felsklippe; [nicht sehr] steiler [bewachsenser] Fels (Quelle: Datenbank zur Deutschen Sprache in Österreich http://oewb.retti.info) -->zurück
[17] Sukkurs (lat.): Hilfe, Beistand, Unterstützung -->zurück
[18] Wiedemer: Wiedemerkopf 2.165m (Wildengruppe) -->zurück
[19] heutiger Standort des Prinz Luitpold Hauses – und den See gibt es hier immer noch -->zurück
[20] behufs: zwecks, zu dem Zweck - entstammt dem Kanzlei- u. Amtsdeutsch (etymologie.info) -->zurück
[21] perennierend: Im allgemeinen Sprachgebrauch als Synonym für wiederkommen, ausdauern, anhalten. In der Geographie: das ganze Jahr über Wasser führen (bei Quellen und Flüssen) – sogesehen bestimmt auch auf Schneefelder übertragbar (wiktionary.org) -->zurück
[22] Fuß (alte Maßeinheit): ca. 30 cm (oder ungefähr Schuhgröße 46) -->zurück
[23] "Am Sätteli": Nachdem man beim Aufstieg vom Prinz Luitpold-Haus eine vom Nordgrat der Kreuzspitze herunterziehende Rippe gequert hat, gelangt man an eine weitere Rippe, das sogenannte "Sättele (2.136 m)", etwa eine Viertelstunde von der Balkenscharte entfernt. Die Passage wird heute mit Hilfe von Eisenstiften überwunden. Erst hier offenbart sich der Hochvogel in seiner vollen Größe und Pracht: Riesengroß steht er plötzlich vor einem (Bergfieber.de) -->zurück
[24] Firn: Hochgebirgsschnee in den Alpen, der sich durch die oberflächliche Schmelzung und Einsickern des Schmelzwassers in Eiskörnerverwandelt hat. Bei fortdauernd abwechselndem Schmelzen und Gefrieren verwandelt sich der Firn in weißes, blasiges Eis, endlich durch Druck und Infiltration von stets aufs neue gefrierendem Wasser in kompaktes Gletschereis. Firnflecken sind kleinere, besonders in den Kalkalpen vorkommende Firnfelder (retrobibliothek.de) -->zurück
[25] Schneelehne: schneebedeckter Abhang (http://oewb.retti.info) -->zurück
[26] allenfallsig (franz. éventuel): ein von "allenfalls" schlecht gebildetes Adjektiv, das auch aus der Kanzleisprache kommt (germazope.uni-trier.de) -->zurück
[27] kulminieren (franz. culminer): den Höhepunkt erreichen, den Gipfelpunkt erreichen (duden.de) -->zurück
[28] Spanne (alte Maßeinheit): ca. 25 cm; Abstand zwischen Armbeuge und Handwurzel oder ½ Elle -->zurück
[29] Tagesgestirn: Sonne -->zurück
[30] Äolsharfen: Die Aeolsharfe (auch Geister-, Wind- oder Wetterharfe) ist ein harfenartiges Saiteninstrument, dessen Saiten durch Einwirkung eines Luftstroms zur Resonanz und somit zum Klingen gebracht werden. Ihr Name leitet sich von Aeolos, dem griechischen Gott des Windes, her (wikipedia.de) -->zurück
[31] umflorte: der Gipfel hatte sich umflort (mit einem Wolkenschleier eingehüllt) - eingehüllte Nebelgestalten -->zurück
[32] Kellerschrofen: Kellenspitze 2.238m (Tannheimer Berge) (Allgäuer Bergnamen, Thaddäus Steiner ISBN 978-3-89870-389-5) -->zurück
[33] Surrogat (lat. surrogatum): der Ersatz = jemanden anstelle eines anderen auswählen -->zurück
[34] Tobel: Ein Tobel ist ein tiefer, schluchtartiger Einschnitt in einem Steilhang oder ein stark eingetieftes Tal eines Gebirgsbaches -->zurück
[35] terra firma: fester Boden (wieder festen bzw. sicheren Boden unter den Füßen zu haben) -->zurück
[36] Eckalpen: heute Schwabegghütten beim Abstieg Richtung Hinterhornbach -->zurück
[37] Paß Gacht: Gaichtpass zwischen Weißenbach und Nesselwängle -->zurück